Die Geheimnisse der Toten
Latein.»
Der Pistolenknauf traf auf ihr Kinn. Sie wirbelte herum, doch der Schläger hielt sie an den Haaren gepackt. Sie sank auf die Knie. Dragović baute sich vor ihr auf. Er atmete schnell und war aufgeregt.
«Sie waren heute Nachmittag im Museum des Forums und haben dort nach diesem Stein gesucht. Warum? »
Sie spuckte Blut auf den Boden. Er weiß nichts von der Schriftrolle, auch nichts von Trier und Gruber , dachte sie. Mit Schrecken erinnerte sie sich plötzlich, dass in ihrer Jeanstasche Grubers Übersetzung steckte.
Sie starrte auf den Stein, auf das Kreuz über den Worten, die sie nicht lesen konnte, und betete zu Gott, obwohl sie nicht glauben mochte, dass er ihr helfen würde.
«Das Symbol», murmelte sie. Sie hob eine freie Hand, um darauf zu zeigen. «Ich habe nach diesem Zeichen gesucht, das auch auf dem Anhänger der Kette zu sehen ist.»
«Und deswegen sind Sie nach Rom gekommen?»
Seine Frage überraschte sie. «Nein, wegen der Textnachricht.»
«Wovon reden Sie? Wer hat Sie hierherkommen lassen?»
Sie schaute ihn fassungslos an. Blut tropfte von ihrem Kinn – ob es aus dem Mund kam oder aus einer Platzwunde, wusste sie nicht zu unterscheiden. «Ich dachte, Sie hätten mir diese Nachricht zukommen lassen.»
Es schien, als wollte er sie abermals schlagen. Sie sah, wie sein Arm zuckte und sich die Finger um die Waffe krallten. Sie sah die Wut in seinem Gesicht und fürchtete, wieder geschlagen zu werden, diesmal so lange, bis sie nichts mehr fühlte.
Der Schlag blieb aus. «Warum sind Sie nach Rom gekommen?», hakte er nach, und seine Stimme verriet, dass er um Fassung rang.
«Der Textnachricht wegen. Ich weiß nicht, wer sie mir geschickt hat, aber sie zitierte die Inschrift auf dem Triumphbogen Konstantins und bot mir Hilfe an.»
Dragović sagte etwas über ihren Kopf hinweg. Die Hand ließ von ihr ab. Sie stürzte wieder auf den Boden. Schritte entfernten sich und kamen zurück. Als sie die Augen öffnete, sah sie Dragović in ihrer Handtasche kramen. Er hatte sie anscheinend aus dem Auto holen lassen, zog nun das Handy daraus hervor und starrte auf das Display. Er wirkte überrascht, wie Abby fand.
«Ich dachte, Sie hätten mir diese Nachricht geschickt», wiederholte sie flüsternd.
Der Schläger hob sie vom Boden auf und band ihr ein Tuch um die Augen. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der erstickende Geruch von Veilchen.
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16
Konstantinopel – April 337
Die Soldaten sind keine Palastwachen. Die Abzeichen auf ihren Umhängen zeigen zwei Männer im Ringkampf miteinander. Legio Gemina, die vierzehnte. Sie müssten eigentlich Tausende von Meilen entfernt sein, an der Rheingrenze, zur Abwehr der Barbaren, die den Fluss zu überqueren versuchen.
Der Zenturio salutiert. «General Valerius. Folge uns bitte.»
General hat man mich schon lange nicht mehr genannt. «Wer will mich sehen?»
«Ein alter Freund.»
Das glaube ich nicht. Alle meine Freunde sind fort, verstorben oder verzogen. Ich werfe mir einen Umhang über, setze einen Hut mit breiter Krempe auf und lasse mich abführen. Es geht nicht in Richtung Palast oder Schola-Kaserne oder Blachernen-Palast, wie ich es erwartet hätte, sondern über die steilen Stufen hinab ans Goldene Horn. Es ist früher Sonntagnachmittag. Die Stadt schläft wie ein Hund, die Markthallen sind leer, die Geschäfte geschlossen, die Herde kalt. Sogar die Hämmer und Meißel ruhen. Die Welt steht still, weil Konstantin es so befohlen hat. Wer würde einen Gott ablehnen, der für einen freien Tag in der Woche gesorgt hat?
Am Ufer erwartet uns eine Barke, die auf den Wellen schaukelt, inmitten von Abfällen, die im ganzen Hafenbecken verstreut liegen. Zwölf starke Sklaven beugen sich über die Ruderpinne. Ich rechne damit, dass man uns auf die andere Uferseite übersetzt, doch wir fahren auf den offenen Bosporus hinaus. Ich blicke nach unten auf den Kielboden. In Bugnähe liegt eine Kette, zu einem Eisennest zusammengerollt, daran hängt ein Anker, der schwer genug ist, um einen alten Mann in die Tiefe zu ziehen. Man würde nicht einmal einen Spritzer sehen, weil der Wind Schaumkronen von den Wellen bläst.
Mit beiden Händen halte ich den Umhang fest gerafft, um mich vor dem Wind zu schützen, und richte meine Aufmerksamkeit auf die Stadt an der asiatischen Küste – Chrysopolis, die goldene Stadt. Sie hat in den vergangenen Jahren viel von ihrem Glanz verloren – Konstantinopel wirft seinen Schatten bis auf die
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