Die Geheimnisse der Toten
sich nicht mehr, eine neue Grenze zu ziehen.»
«Die Bewohner hier fühlen sich immer noch zu Serbien gehörig, und ihr Land wäre noch Teil davon, hätte die NATO es nicht unterworfen.»
«Sie hätten halt nicht damit anfangen sollen, Albaner zu massakrieren.»
«Tja.»
Jessop schaute Abby von der Seite an. «In Ihrer Personalakte steht, Sie seien eine Idealistin.»
Aus den Augenwinkeln sah sie ein stählernes Kreuz am Straßenrand. «Das war einmal.»
Es wurde still zwischen den beiden. Ein Militärfahrzeug mit deutscher Fahne rauschte in entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbei. Im Rückspiegel sah Abby gelangweilte Soldaten mit ihren Gewehren auf der Pritsche sitzen.
«Hätten Sie nicht lieber Begleitschutz anfordern sollen?», fragte sie.
«Nach der Einschätzung Londons ist das Gebiet hier oben relativ friedlich.»
«Wenn etwas schiefgeht, wird nicht London den Kopf hinhalten müssen.»
«Das ist mir klar.» Jessop studierte die Karte. «Ich glaube, wir müssen an der nächsten Kreuzung abbiegen.»
Abby bremste ab und schaute in den Spiegel. Der kleine rote Opel, der ihnen lange Zeit gefolgt war, war nicht mehr zu sehen. «Da vorn schon?»
Von der Straße zweigte ein Feldweg ab, der nur aus zwei ausgefahrenen Reifenspuren bestand. Hätte nicht ein weißer Schrein vor der Einmündung gestanden, hätte Abby ihn übersehen. An dessen Sockel lag ein Strauß verblühter Blumen, der anscheinend an einen Verkehrsunfall erinnerte.
Jessop hob den Blick von der Karte. «Versuchen wir’s.»
Die Spurrinnen waren tief und holprig. Abby musste den Geländegang einschalten. Jessop beugte sich nach vorn und spähte durch die verregnete Windschutzscheibe.
«Sind das vor uns frische Reifenspuren?»
Abby hatte nicht die Zeit, genauer hinzuschauen. Es ging nun steil bergan. Der Untergrund wurde felsig, was für weitere Komplikationen sorgte. Durch die Spurrinnen stürzten ihnen kleine Wasserbäche entgegen und schwemmten lose Erde mit sich. Unter dem Dach der Bäume zu beiden Seiten war es bereits dunkel geworden.
Als sie die Anhöhe erreicht hatten, versperrte ihnen ein schwarzer Pick-up den Weg. Abby trat auf die Bremse und würgte fast den Motor ab. Zwei Männer in dunkelblauen Tarnanzügen und Sturmhauben standen neben dem Pick-up und wiegten Maschinenpistolen in den Armen.
«Angeblich sorgt die KFOR dafür, dass so etwas nicht vorkommt», sagte Jessop. Er holte sein Handy hervor und tippte hektisch auf die Tasten. «Sie sollte die Straßen offen halten.»
«An diesen Feldweg hat man offenbar nicht gedacht.» Es überraschte Abby selbst, dass sie ruhig blieb. Sie hatte solche Situationen dutzendfach erlebt und wusste, was zu tun war. Es war immer die gleiche Szene: Pick-ups und bewaffnete Männer.
Sie griff in die Tasche, zog ihre Zigarettenpackung daraus hervor und hob beide Hände, um sie den Männern zu zeigen. Einer kam herbei; der andere blieb, wo er war, und zielte mit seiner Waffe auf den Kühler des Toyotas.
Der eine Mann stellte sich ans Fenster und bedeutete Abby, die Scheibe herunterzulassen. Aus den Schlitzen der Sturmhaube blitzten ihr dunkle Augen entgegen, die verwundert schienen, dass eine Frau am Steuer saß.
«Papiere, bitte», knurrte der Mann auf Englisch.
Abby zupfte mit den Lippen eine Zigarette aus der Packung und reichte die Packung durchs Fenster. Er nahm sie wortlos an sich.
«Kann ich in meine Handtasche greifen?», fragte sie auf Serbisch. Die Augen blinzelten, der Kopf nickte.
«Was wollen Sie hier?»
Abby deutete mit einer Kopfbewegung auf die Aufschrift draußen an der Tür. «EULEX. Wir arbeiten für das Umweltministerium.»
Sie holte ihren Pass aus der Tasche. Als der Mann ihn öffnete, fand er einen Zwanzigeuroschein darin.
«Und Ihr Freund?»
«Ein Fachmann aus London. Er will sich die Bäume ansehen.»
Die zwanzig Euro verschwanden in seiner Tasche. «Warten Sie hier.»
Er ging zu dem Pick-up zurück und besprach sich mit seinem Kumpan, holte dann ein silbernes Handy hervor und fing gestenreich an zu sprechen. Die auf den Wagen gerichtete Waffe bewegte sich nicht.
«Wieso haben Sie das mit den Bäumen gesagt?», fragte Jessop.
Abby starrte nach vorn und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu halten. «Er glaubt jetzt, wir suchen nach illegalen Holzeinschlägen.»
«Illegale Holzeinschläge?»
«Siebzig Prozent der Kosovaren heizen mit Holz. Außerhalb der Städte geht es mitunter ziemlich primitiv zu, und auch in den Städten lässt die Stromversorgung
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