Die Geheimnisse der Toten
Range Rover auf sie zu, von deren Rädern Lehm aufspritzte. Abby hörte ein Brausen wie von einem Wasserfall.
Der Polizist neben ihr blickte nervös zum Himmel empor. Er trieb Abby und Jessop an die Seite des Pick-ups, trat zurück und richtete seine Waffe auf sie. Die Range Rover fuhren auf die Wiese und bildeten mit dem Pick-up ein Dreieck. Männer in Jeans und schwarzen Blousons sprangen heraus; einer öffnete die Heckklappe des vorderen Wagens.
Eine schlanke Gestalt in langem Wollmantel stieg aus und kam in Trippelschritten auf sie zu, bedacht darauf, sich die Schuhe nicht schmutzig zu machen. Die gewaltige Landschaft ließ ihn kleiner erscheinen als in seinem Büro in Rom, doch die Ausstrahlung von Macht war unverändert deutlich. Selbst seine Leibwachen schienen schüchtern Abstand zu halten.
«Dragović», murmelte Jessop neben ihr.
Dragović blieb wenige Schritte vor ihnen stehen. Ohne auf Abby zu achten, musterte er Jessop mit forschenden Blicken.
«Das ist nicht Lascaris.»
Er zog eine Pistole aus der Manteltasche und zielte auf Jessops Kopf. Das Brausen im Hintergrund wurde lauter. Abby hörte Jessop verzweifelt flehen. Er wand sich wie ein Hund an der Leine. Ihr war, als bebte der Boden unter ihren Füßen. Der Wind frischte auf und schleuderte Regentropfen in ihr Gesicht. Dragović trat zurück.
Aus der Mündung zuckte ein Feuerstoß, der die Welt spaltete. Der Pick-up wackelte, als Jessop, von der Kugel getroffen, rücklings vor die Seitenwand prallte. Blut spritzte auf Abbys Gesicht, wärmer als der Regen. Dragovićs Waffe richtete sich auf sie. Er brüllte etwas, was sie aber nicht hören konnte, weil die Ohren dröhnten und das Brausen in der Luft immer lauter wurde.
So endet alles.
Und plötzlich war die Waffe verschwunden. Dragović hatte sich umgedreht und rannte auf den Range Rover zu. Bevor sie sich’s versah, spürte sie eine Hand an der Kehle. Dann kroch ihr einer der Polizisten förmlich ins Gesicht und brüllte sie an: «Hast du die Scheißbullen gerufen, oder war’s dein Freund?»
Ein fast schon vergessenes Bild kam ihr vor Augen: Jessop, wie er an seinem Handy herumgefummelt hatte, kurz bevor sie entführt worden waren. Ich habe die Kavallerie alarmiert. Sie hatte ihm nicht geglaubt.
«Ich weiß nicht.»
Er zerrte sie von dem Truck fort, riss an ihren Haaren und zwang sie, den Kopf in Richtung Himmel zu heben.
«Und was ist das?»
Ein schwarzer Hubschrauber tauchte hinter der Hügelkuppe auf und raste über das Tal auf sie zu. Er hatte eine stumpfe Bugnase, einen gedrungenen Rumpf und wie Krallen ausgefahrene Räder. Als er im Wind schwankend über ihr schwebte, sah sie das Kürzel KFOR in weißen Buchstaben auf den Rumpf gemalt.
Die Männer um sie herum stoben auseinander. Sie sah Dragović in den Range Rover springen. Die durchstartenden Räder wirbelten Dreck auf. Der zweite Wagen folgte.
Der Hubschrauber senkte sich. Die Druckwellen der Rotoren trafen Abby wie Faustschläge und drohten, sie von den Beinen zu holen. Regentropfen peitschten ihr ins Gesicht. Sie erwartete, dass sich nun eine Szenenfolge wie im Kino vor ihr auftat: herabfallende Seilrutschen, an denen sich knallharte Soldaten abließen, um über die Bösewichter herzufallen.
Doch der Hubschrauber drehte ab und folgte den Range Rovern. Einer der beiden Kerle kam hinter dem Pick-up hervor und packte sie beim Arm. Er trug immer noch die blaue Polizeiuniform.
Die Leute im Hubschrauber halten ihn für einen Polizisten , realisierte Abby.
Er rammte ihr die Waffe in die Rippen und drohte brüllend, abzudrücken, wenn sie ihm nicht unverzüglich folgte. Sie ließen Jessops Leiche, die neben dem Pick-up am Boden lag, zurück und rannten über die Weide auf den Waldrand zu. Der andere Polizist folgte. Was Abby vom Wagen aus betrachtet für ein halbwegs ebenes Gelände gehalten hatte, erwies sich als bucklig und voller Stolpersteine. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, mit den nassen Kleidern, in denen sie sich wie in einer Zwangsjacke vorkam, und von den Polizisten schneller vorangetrieben, als sie laufen konnte, wurde sie durchgeschüttelt wie ein Fisch an der Angelschnur.
Das Wummern der Rotoren war leiser geworden und hatte einen pfeifenden Ton angenommen. Sie reckte den Hals und sah, dass der Hubschrauber ein paar hundert Meter taleinwärts Dragovićs Range Rover überholt hatte und in einer Wolke aus aufgewirbeltem Laub auf dem Feldweg landete. Luken öffneten sich, ein Dutzend Soldaten sprang ins Freie
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