Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Panik zeichnete sich auf Xanders Gesicht ab. In der einen Hand hielt er die Armbrust, in der anderen die abgebrochene Kurbel. Seine Selbstsicherheit war auf einmal wie weggeblasen. »Tut mir leid«, sagte er.
Da fiel Avi seine eigene Waffe ein. Er zog das Messer, das seine Mutter ihm geschenkt hatte, aus dem Taillenbündchen und hielt es vor sich. Trotz seiner Todesangst waren seine Hände ganz ruhig. Als der Wolf ihm unter lautem Geheul an die Kehle gehen wollte, ließ Avi sich auf ein Knie fallen und hob das Messer. Der Wolf drehte sich in der Luft und schnappte nach seinem Gesicht.
Der muffige Geruch nach nassem Fell stieg Avi in die Nase, während er rückwärts in den Schlamm fiel. Ein ohrenbetäubendes Geheul ertönte, und er spürte einen Ruck in der Schulter, als wolle ihm jemand den Arm abreißen. Fast erdrückt vom Gewicht des Wolfs, lag er da und rang nach Atem.
Im nächsten Moment packte ihn eine starke Hand am Kragen und zog ihn unter dem toten Wolf hervor. Aus der Nähe betrachtet, war er riesig und von der Schwanzspitze bis zur Schnauze gemessen mindestens doppelt so groß wie Avi.
Avi zog ihm die Elfenklinge aus der Brust. Dickes Herzblut quoll in den Schlamm und verfärbte ihn schwarz.
»Er ist mitten in das Messer hineingelaufen«, keuchte er. »Warum ist er nicht ausgewichen? Er hätte es doch wissen müssen.«
Xander musterte das stoßzahnförmige Messer.
»Hast du das von deiner Mutter?«, fragte er. Avi nickte. »Eine Klinge aus dem Elfenreich. Wölfe können diesen Dingern nicht widerstehen, heißt es. Eine mächtige Waffe. Und auch eine gefährliche.«
»Mir genügt, dass sie wirkt«, entgegnete Avi. »Und was machen wir jetzt?«
Xanders Miene hellte sich auf. »Mit so einer Wunderwaffe gibt es da nur eines.«
»Und was?«
»Wir häuten das Vieh.«
Der alte Kobold arbeitete rasch und geschickt, und es verriet jahrelange Übung, wie er mit dem Messer hantierte. Zuerst brachte er lange Einschnitte an Beinen, Bauch und Brust des Wolfs an und legte dann das Messer weg.
»Beinahe hätten wir dran glauben müssen«, stellte Avi fest.
Xanders Großspurigkeit war zurückgekehrt. »Ohne Risiko für den Jäger ist es keine richtige Jagd.«
Avi war nicht sicher, ob ihm diese Antwort gefiel, doch er freute sich so über seinen Erfolg, dass er aufgehört hatte zu zittern. »Ich wollte dich schon immer etwas fragen«, meinte er, während Xander begann, dem Wolf das Fell abzuziehen.
»Schieß los.«
»Bei deiner Unterredung mit meiner Mutter in ihrem Gemach hast du die Prophezeiung erwähnt.«
Xander hielt inne. Der Wolf war halb gehäutet. Sein freigelegtes Fleisch glänzte. Am Hinterlauf zuckte noch ein Muskel.
»Du hast also gelauscht«, erwiderte er und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab.
»Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen.«
»Wegen geringerer Äußerungen sind schon Kriege vom Zaun gebrochen worden, mein Junge. Aber das macht nichts. Bevor ich dir verrate, was ich von der Prophezeiung halte, möchte ich deine Meinung dazu hören.«
Avi pflückte sich den allmählich trocknenden Schlamm von der Tunika. »Ich weiß nicht, was ich denken soll«, antwortete er schließlich. »Meine Mutter scheint jedenfalls keine hohe Meinung davon zu haben.«
»Deine Mutter ist die Königin ihres Volkes, Avi. Die Herrscherin über dieses Reich. Sie muss häufig Ansichten vertreten, die ihr eigentlich nicht entsprechen.«
Mit einem Ratsch zog Xander die Haut des Wolfs bis zum Hals hoch, griff wieder zum Messer und schnitt dem Kadaver mit einer sägenden Bewegung den Kopf ab. Dann hielt er Avi die Trophäen – die Haut in der einen, den Kopf in der anderen Hand – hin.
»Hier«, sagte er. »Du hast sie dir verdient.«
»Ich will sie nicht.«
»Sie sind eines wahren Prinzen und zukünftigen Königs würdig«, verkündete Xander und musterte ihn eindringlich. »Das weißt du. Ich erkenne es in deinen Augen. Deine Augen verraten viel, Avi.«
»Das behaupten die Leute immer.«
»Ist dir klar, warum deine Mutter dich ins Reich der Sterblichen geschickt hat?«
»Um mich vor Kellen zu schützen.«
»Nein! Avi, hör mir zu. Du bist Arethusas Erstgeborener und deshalb Erbe des Feenthrons. Eines Tages wirst du ihn übernehmen, und dann wird die Prophezeiung wahr werden. Die beiden Welten werden vereint. Deshalb hat Arethusa dich fortgeschickt.«
»Aber warum?«
»Weil sie Angst hat.«
»Vor den Sterblichen?«
»Davor, die Kontrolle über ihre Grenzen zu verlieren. Ihre Truppen
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