Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Wäscheleine.«
Die Tür öffnete sich, und eine alte Dame erschien. In der einen Hand hielt sie eine Kerze, mit der anderen schwenkte sie einen Besen. Beim Anblick ihrer Besucher ließ sie beides fallen.
»Avi!«, rief die alte Dame, und noch ehe sie etwas hinzufügen konnte, traten ihr Tränen in die Augen. Sie schloss Avi in ihre faltigen Arme, während Hannah rasch die Kerze aufhob, bevor sie noch den Besen in Brand steckte. Avi erwiderte die Umarmung. Alte Erinnerungen geisterten schattenhaft in seinem Kopf herum. Ihr fast vergessener Geruch, ihre melodische Stimme, heiser geworden mit den Jahren. Iphigenias Gesicht war das der Statue in der Palastgalerie. Das Kindermädchen, das ihn und Levi versorgt hatte. Dass sie es war, daran bestand kein Zweifel, doch trotz seiner Erleichterung konnte er sich eine Frage nicht verkneifen.
»Warum bist du so alt geworden?«
Irgendwie gelang es ihnen, sich in das enge Wohnzimmer zu zwängen. Iphigenia saß auf dem einzigen Stuhl, während Avi und Hannah sich im Schneidersitz auf dem Boden niederließen. Trockenblumensträuße hingen von den niedrigen Deckenbalken. Auf dem schmalen Sims über dem offenen Kamin stand verschiedener Krimskrams. Hinter einem dünnen Vorhang erkannte Avi einen Herd und ein Regal mit Töpfen und anderen Utensilien sowie die Ecke eines Bettes. Avi konnte den Blick jedoch kaum vom Gesicht der alten Frau abwenden. Die Schönheit der Statue war noch vorhanden, allerdings von tiefen Runzeln durchzogen.
»Um deine Frage zu beantworten: Ich habe mir von Fugit helfen lassen«, erklärte Iphigenia, nachdem alle Platz genommen hatten. »Als deine Mutter dich weggeschickt hatte, wurde das Leben im Palast immer unerträglicher. Zum Teil lag das daran, dass Arethusa allen verbot, deinen Namen in den Mund zu nehmen. Aber das Schlimmste war, wie sehr ich dich vermisst habe, mein lieber Avi.«
»Ich verstehe nicht ganz«, meinte Avi. »Wie konnte Fugit dir helfen?«
Iphigenia stocherte mit dem Schüreisen im Feuer. Die Flammen loderten kurz auf und begannen dann, stetig zu knistern. Sie nahm eine Handvoll Tannenzapfen aus einem Korb und warf sie in den Kamin. »Er hat mich gealtert.«
»Gealtert?«, wunderte sich Hannah. »Aber weshalb?«
Im Schein des Feuers wirkte Iphigenias pergamentartige Haut fast durchsichtig, doch an ihren Wangen war noch ein Hauch der verflossenen Schönheit zu erkennen. »Ich war Arethusas Zofe. Jahrelang habe ich dich versorgt wie meinen eigenen Sohn. Später auch Levi, den armen Jungen. Als du ein Baby warst, habe ich dich gefüttert und deine Windeln gewechselt. Später habe ich dir Geschichten vorgelesen und dir Lieder vorgesungen. Wie habe ich mich gefreut, als du den Spieß umgedreht und mir etwas erzählt oder vorgesungen hast! Ich habe miterlebt, wie du zu dem hübschen jungen Prinzen wurdest, der du jetzt bist. Und dann hat Arethusa dich mir weggenommen.« Mit Tränen in den Augen wandte sie sich ab. »Es hat mir das Herz gebrochen. An diesem Tag war mein Leben vorbei. Fugit hat mir geholfen, den Weg bis zu meinem Ende ein wenig abzukürzen.«
Im Feuer zerplatzten die Tannenzapfen einer nach dem anderen und verbreiteten einen süßlichen Geruch.
»Du hast alles aufgegeben?«, fragte Avi. »Den Palast mit seinen Annehmlichkeiten … für das hier?«
Iphigenia wischte sich die Augen ab und nickte. »Ja, Avi. Deine Mutter hat nichts getan, um es mir auszureden. Ich mag zwar nur eine Dienstbotin gewesen sein, habe jedoch nie um den heißen Brei herumgeredet. Lange Zeit duldete sie diese Eigenart und hatte manchmal sogar Spaß daran – so glaubte ich wenigstens. Aber sobald du fort warst, änderte sich alles. Daran ist nur Kellen schuld.« Sie legte ihre verrunzelte Hand auf Avis. Ihr Atem klang rauh, und sie weinte wieder. »Wir hatten eine schöne gemeinsame Zeit, Avi. Wenigstens diese Erinnerungen kann uns niemand nehmen.«
»Nein«, log Avi. Er spürte, dass seine Hand leicht zitterte. »Das kann niemand.«
»Avi ist doch jetzt zurück«, meinte Hannah. »Du brauchst nicht mehr so zu leben, sondern könntest uns in den Palast begleiten. Wir würden alles erklären.«
Iphigenia stand auf, geriet ins Schwanken und musste sich am Kaminsims festhalten. Auf dem Sims stand eine große Sanduhr, die schon fast abgelaufen war.
»Die hat mir Fugit gegeben«, sagte sie und versuchte, die Sanduhr hochzuheben, aber sie war zu schwer. Lächelnd schloss Iphigenia die Augen. »Er hat sich geweigert, mich den ganzen Weg bis zum
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