Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Avi. Hannahs Zorn war Trauer gewichen.
Sie und Avi streckten die Hände aus. Der Wagen machte einen Satz vorwärts, und ihre Fingerspitzen berührten sich.
Vor dem Wagen befand sich plötzlich eine Tür, die Avi bis jetzt nicht bemerkt hatte. Die Tür schob sich in die Wand zurück, so dass dahinter eine Straße im hellen Sonnenschein in Sicht kam. Der Wagen raste auf die Straße hinaus, während Hannah hustend in einer blauen Rauchwolke zurückblieb. Als Avi sich noch einmal umblickte, sah er, wie sie zornig ihre Handtasche zu Boden schleuderte. Dann war sie verschwunden.
Kapitel 9
E in Ort, an dem Sterbliche nichts verloren haben. Beim bloßen Gedanken lief Avi ein Schauder über den Rücken. Die Stadt raste an ihnen vorbei, und Avi hatte das seltsame Gefühl, dass der Wagen stand, während London sich bewegte. Obwohl Roosevelt kaum das Steuer zu betätigen schien, umrundeten sie ohne Missgeschick jede Kurve. Kurz hörte Avi eine Sirene, und ein Streifenwagen heftete sich an ihre Fersen. Doch Roosevelt wedelte nur mit der Hand, und das Polizeifahrzeug löste sich in Luft auf.
»Wir hätten sie nicht zurücklassen dürfen«, meinte Avi. »Damit haben wir ihr sehr weh getan.«
»Avi«, flötete Roosevelt. »Du brauchst sie nicht.«
»Das ist hier nicht das Thema. Sie hat mir geholfen.«
»Abschiednehmen ist so schwer«, leierte Roosevelt im Singsangton, »doch morgen weißt du es nicht mehr.«
»Auch von Shakespeare?«
»Könnte man sagen.«
Im nächsten Moment war die Fahrt auch schon wieder vorbei. Der Wagen parkte am Rand einer vielbefahrenen Straße, und Roosevelt sprang auf den Gehweg hinaus. »Beeilung, Junge!«, rief er.
»Riskierst du denn keinen Strafzettel?«, fragte Avi, der ganz in der Nähe eine Parkuhr gesichtet hatte.
»Im Leben nicht!«
Avi hastete hinter dem beleibten Mann über einen großen Platz. Unterwegs kamen sie an einer Bronzestatue vorbei, die einen Mann mit einem Messinstrument darstellte.
»Newton!«, verkündete Roosevelt mit einer Handbewegung in Richtung der Statue. »Nicht sehr gut getroffen.«
Drei Tauben waren auf dem Kopf der Statue gelandet und blickten Avi nach.
»Ich bin nicht so gern ungeschützt draußen im Freien«, meinte Avi.
»Peristerophobie«, stellte Roosevelt fest, ohne sich umzuschauen.
»Was?«
»Eine grundlose Angst vor Tauben.«
»Ich habe keine Angst vor den Tauben, sondern vor Kellen.«
»Und sitzt der fragliche Goblin auf dieser Statue?«
»Äh, nein.«
»Dann avanti. «
Ihr Ziel war ein modernes Backsteingebäude, das nur aus einem Dach zu bestehen schien und keine Fenster hatte.
»Was ist das hier?«, fragte Avi, als er Roosevelt endlich eingeholt hatte.
Mit einer inzwischen wohlbekannten Geste breitete dieser die Arme aus.
»Die British Library«, verkündete er.
»Was wollen wir denn mit Büchern?«
Die Frau an der Information war ebenso abweisend wie ihre Kollegin im Savoy Hotel. Das Problem war offenbar, dass Roosevelt nicht nach oben in den Lesesaal, sondern in den Keller wollte.
»Tut mir leid, Sir«, sagte sie. »Aber der Büchertresor ist Sicherheitszone. Ohne die erforderlichen Genehmigungen kann ich Sie nicht hereinlassen.«
Mit einem strahlenden Lächeln förderte Roosevelt eine Visitenkarte zutage, die er zweimal faltete. Als er sie wieder auseinanderklappte, war sie doppelt so groß wie zuvor. Von der Empfangsdame mit glasigen Augen beobachtet, wiederholte er die Prozedur mit der vergrößerten Karte. Und als er sie diesmal öffnete, hatte sie sich in einen Brief verwandelt.
»Hier«, meinte Roosevelt und hielt das Blatt Papier hoch. »Unsere Genehmigung vom Leiter der Royal Library of Congress. Wie Sie daraus entnehmen können, sind wir mit einem wichtigen Forschungsprojekt betraut, weshalb uns niemand an unserer Tätigkeit hindern darf.«
Die Lippen der Frau bewegten sich lautlos, während sie den Brief las. Das war insofern bemerkenswert, als dass die Seite völlig leer war.
»Natürlich«, erwiderte sie benommen. »Verzeihen Sie mir.« Sie reichte ihnen einen Ausweis zum Anklemmen und wies ihnen den Weg zu einem Lastenaufzug. »Falls Sie jemand aufhalten sollte, zeigen Sie einfach den Ausweis vor.«
»Wir sind Ihnen sehr verbunden«, entgegnete Roosevelt mit einer tiefen Verbeugung. »Komm, Avi.«
Der Aufzug brachte sie in einen engen, von grellem Neonlicht beleuchteten unterirdischen Raum. Nachdem ein Wachmann rasch ihre Ausweise kontrolliert hatte, traten sie durch eine Stahltür in einen großen Saal, in
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