Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
»Zu einem Arzt?«
»Arzt?«, höhnte Roosevelt und führte sie durch eine Glastür auf einen großen Balkon. »Mein lieber Junge, da könnte man sich genauso gut an eine Ente wenden. Was die Wiederherstellung deines Gedächtnisses betrifft, schwebt mir etwas Wirksameres vor.«
Die Aussicht vom Balkon war atemberaubend. Ein Gewirr von Hausdächern, darunter eine ordentliche Reihe von Bäumen und jenseits davon der Fluss, der in der Sonne funkelte. Das Licht spiegelte sich in Roosevelts Monokel, und er breitete die Arme aus, dass die Schöße seiner grünen Samtjacke sich im Wind bauschten. Einen Moment lang war Avi überzeugt, dass Roosevelt vom Balkon springen würde. Die Vorstellung, wie dieser Koloss von einem Mann über die Dächer von London flog, war auf seltsame Weise faszinierend.
Doch anstatt abzuheben, begann Roosevelt zu rufen:
»Da sind die Bücher, Künste und Gelehrten,
Die spiegeln, halten, nähren diese Welt.«
Vom Ende des Balkons aus führte eine Wendeltreppe aus Metall in einen winzigen Hof in der Tiefe. Avi hätte schwören können, dass Roosevelt zu dick war, um sich zwischen die eng beieinanderstehenden Geländer zu zwängen, aber es gelang ihm dennoch. Das Ganze erinnerte an eine optische Täuschung, als wäre der beleibte Mann in der Lage, sich gleichzeitig in zwei Dimensionen aufzuhalten.
»Offenbar steht dein Freund auf Shakespeare«, flüsterte Hannah und zog Avi am Arm. »Komm schon, oder willst du, dass er uns abhängt?«
»Wer ist Shakespeare?«
»Das erkläre ich dir später. Schwing die Hufe, Avi, sonst entkommt er uns.«
Im Hof fühlte man sich wie auf dem Grund eines tiefen, quadratischen Brunnens. Der Himmel war ein blaues Viereck, viele Kilometer entfernt. Auf den ersten Blick gab es keinen Ausgang.
In einer Ecke des Hofs stand ein langes, niedriges Objekt, das mit einer schwarzen Plane abgedeckt war. Roosevelt griff nach einer Ecke der Plane und entfernte sie mit einer eleganten Geste, vergleichbar mit einem Zauberkünstler, der die Tischdecke unter einer Reihe von Kristallgläsern wegzieht. Ein Auto kam zum Vorschein, wie Avi es noch nie zuvor gesehen hatte.
Oder vielleicht doch, und ich habe es vergessen, dachte er.
Sein erster Eindruck war, dass das Auto eigentlich nur aus Motor bestand. Funkelnde Auspuffrohre ragten unter einer dunkelgrünen Karosserie hervor. Zwei niedrige Ledersitze duckten sich hinter eine winzige Windschutzscheibe. Die riesigen Speichenräder waren mit Weißwandreifen versehen.
»Wahnsinn!«, rief Hannah begeistert.
»So komme ich in der Stadt herum«, meinte Roosevelt bescheiden.
Mit derselben beeindruckenden Geschwindigkeit, die er schon auf der Wendeltreppe gezeigt hatte, umrundete er das Auto und sprang auf den Fahrersitz.
»Alles einsteigen!«, rief er. »Die Gezeiten warten nicht!«
Avi saß bereits im Wagen, als ihm auffiel, dass sie ein Problem hatten.
»Oh«, sagte er und sah sich im Auto um. »Wo soll denn Hannah sitzen?«
»Nirgendwo«, entgegnete Roosevelt. Er hatte plötzlich eine Schutzbrille auf der Nase. Doch als Avi genauer hinschaute, stellte er fest, dass sie nur über ein Glas für das Auge mit dem Monokel verfügte. Ein merkwürdiger Anblick.
Hannah klopfte zunehmend ärgerlich mit dem Fuß auf den Boden.
»Ich fasse es nicht, dass du mich einfach sitzenlässt, Avi!«, schimpfte sie. »Schließlich hast du es mir zu verdanken, dass du überhaupt hier bist.«
Avi sah Roosevelt an. »Ohne sie komme ich nicht mit.«
Als Roosevelt auf einen Knopf am Armaturenbrett drückte, sprang dröhnend der Motor an. Blauer Qualm quoll aus den diversen Auspuffen. Allerdings hatte Avi keine Ahnung, wie sie den engen Hof verlassen sollten.
»Tja, in den Kofferraum passt sie nicht«, sagte Roosevelt. »Da sind meine Golfschläger drin.«
»Es muss doch einen Weg geben, sie mitzunehmen!«, überschrie Avi den Motorenlärm.
»Nein, gibt es nicht«, entgegnete Roosevelt. »Außerdem hat ein Sterblicher dort, wo wir hinwollen, nichts verloren. Also verhalte dich ruhig und strecke weder Arme noch Beine aus dem Fahrzeug.«
Avi zerrte am Türgriff, aber die Tür ließ sich nicht öffnen.
»Kindersicherung«, murmelte Roosevelt.
»Ich will hier raus«, zischte Avi. »Sofort.« Nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten, wollte er seine neue Freundin nicht aufgeben. Hannah versuchte, die Tür von außen aufzumachen, allerdings vergeblich.
»Auch eine Sicherung gegen Sterbliche«, erklärte Roosevelt.
»Tut mir leid«, sagte
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