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Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Titel: Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fairchild
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hatten, war hier alles ordentlich sortiert. Sämtliche Regale waren mit kleinen Messingschildern versehen, die lange Nummern trugen – offenbar eine Art Code. Die Bücher sahen mit ihren identischen roten Ledereinbänden sehr ähnlich aus, unterschieden sich aber stark in ihrer Dicke. Manche hatten den Umfang von Lexika, andere schienen eher Pamphlete zu sein. Einige waren offenbar recht neu, ein paar an den Ecken eingerissen und voller Staub.
    Am seltsamsten jedoch waren die Buchrücken, denn kein Buch war mit dem Titel oder dem Namen des Autors beschriftet. Stattdessen war eine Reihe von winzigen Abbildungen eingestanzt, die an Hieroglyphen erinnerten. Zumindest ein Erkennungszeichen, denn Avi stellte fest, dass keine Folge von Symbolen der anderen glich.
    Aber wenigstens war es hier endlich hell.
    Der letzte Gang war so abschüssig, dass Avi sich an den Regalen festhalten musste, um nicht auszurutschen. Das Wasser im Rinnstein strömte immer schneller, bis es dahinplätscherte wie ein Gebirgsbach. Schließlich wurde der Boden wieder eben, und Avi stand vor dem großen Becken, in dem das Bächlein mündete. Es war viereckig und hatte einen gefliesten Rand. Auf jeder Seite standen einige Dutzend Schreibtische, und an allen saßen dicke Damen hinter Schreibmaschinen. Als Avi genauer hinschaute, stellte er fest, dass es nicht alles Schreibmaschinen waren. Viele Frauen hatten auch Laptops vor sich und bearbeiteten die Tastaturen. Andere bekritzelten hektisch Notizblöcke oder die verschiedensten losen Blätter mit Kugelschreibern oder Filzstiften. Eine Frau benutzte sogar einen Federkiel, den sie immer wieder in ein Tintenfass tauchte und damit ein langes Stück Pergament beschriftete. Alle Frauen trugen Bürokleidung und Kopfhörer.
    Eine der Frauen nahm den Kopfhörer ab und kam ihnen entgegen.
    »Überlass das mir«, sagte Roosevelt und trat vor Avi.
    »Kann ich dir helfen, Wächter?«, fragte die Frau.
    Beim Sprechen nestelte sie an ihrem Haar herum, das grau und zu einem gewaltigen Dutt aufgetürmt war. Der Dutt machte sie etwa zu einem Viertel größer, trotzdem reichte sie Avi gerade einmal bis zur Brust.
    »Ja, in der Tat«, erwiderte Roosevelt. »Wir suchen …«
    »Leider sind wir derzeit sehr beschäftigt.« Ihre Stimme war schrill wie eine Kreissäge und übertönte die von Roosevelt ganz mühelos.
    »Dann verzeih uns, werte Dame«, entgegnete Roosevelt. Avi spähte um ihn herum, um sich ihr Gesicht anzusehen. Es war etwa zweimal so breit wie gewöhnlich, und der Mund schien sich über ihren gesamten Kiefer zu erstrecken. Außerdem hatte sie eine flache Nase mit geblähten Nüstern und eine durchgehende Braue über den Augen.
    Endlich fand sie, was sie in ihrem Haar gesucht hatte: eine Zigarette. Sie steckte sie in den Mund, wühlte weiter und förderte ein Streichholzbriefchen zutage. Als die Zigarette brannte, stopfte sie das Streichholzbriefchen wieder in ihren Dutt.
    Avi las die Aufschrift auf dem Schild an ihrem Gürtel:
    McNemosyne – Gedächtnismuse (Abteilungsleiterin).
    Die kleine Frau sog gierig an der Zigarette, Rauch umwaberte sie. Avi trat einen Schritt vor. »Verzeih, aber was ist eine Gedächtnismuse?« Bei seinem Anblick wurden die Augen der Frau fast so groß wie Untertassen.
    »Verdammt!«, rief sie, nahm die Zigarette aus dem Mund, warf sie zu Boden und zertrat sie. Als sie sich aufrichtete und lächelte, wirkte sie auf einmal wie ein unartiges Schulmädchen. »Warum hast du mir nicht erzählt, dass du ihn mitbringst?«, wandte sie sich an Roosevelt, dann an Avi gewandt: »Vermutlich willst du dich umsehen.«
    Avi warf einen Blick auf Roosevelt, der mit den Achseln zuckte und meinte: »Äh, ja bitte. Falls es nicht zu viele Umstände macht.«
    »Umstände. Nein, überhaupt nicht. Dem jungen Mann zuliebe führe ich euch herum.«
    Alle scheinen zu wissen, wer ich bin, dachte Avi. Nur ich nicht.
    »Kennst du mich?«, erkundigte er sich.
    »Wer tut das nicht?«, antwortete sie. »Folge mir, mein Junge.«
    McNemosyne machte kehrt und marschierte los. »Einige bezeichnen diese Räumlichkeiten als Tresor«, rief sie über die Schulter gewandt. »Doch ich finde das sterbenslangweilig und bezeichne sie deshalb als das, was sie in Wirklichkeit sind: der Palast der Erinnerungen. «
    »Mich erinnert das eher an eine Gruft«, entgegnete Avi und betrachtete die schwarzen Steinmauern und das Wasser, das von der Decke tropfte. »Ich wollte nicht unhöflich sein«, fügte er hastig hinzu, als er die

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