Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
finstere Miene der kleinen Frau bemerkte.
»Man darf nie vom Äußeren ausgehen«, gab McNemosyne tadelnd zurück. »Mein Palast hat mehr zu bieten, als man auf den ersten Blick vermutet.«
Sie nahm eine Lesebrille vom Schreibtisch. Sobald sie sie aufsetzte, verfärbten sich die gerade noch schwarzen Wände golden, und die niedrige Decke wurde dreißig Stockwerke hoch. Sie befanden sich nicht mehr in einem dunklen Kellergewölbe, sondern in einem prachtvollen, hell erleuchteten Amphitheater.
»Wie machst du das?«, hauchte Avi ehrfürchtig.
»Da ich nur selten vor die Tür komme«, erwiderte McNemosyne und drückte die Brille fester auf ihre Nase, »richte ich mich hier so gemütlich ein wie möglich. Einmal habe ich es mit Rosa versucht, aber das ist nicht meine Farbe. So, und jetzt zum Geschäftlichen, und mein Geschäft sind Bücher. Allerdings keine gewöhnlichen Bücher, nein, nein. Meine Bücher sind etwas Besonderes. Meine Bücher sind Erinnerungs bücher.«
»Was ist das?«
»Genau das, was der Name sagt. Es enthält alle Erinnerungen eines Menschen. Jeder hat eines: du, ich, sogar unser Freund hier, der Wächter.«
Avis Gedanken überschlugen sich. Ein Buch mit all seinen Erinnerungen? Aber das hieße ja …
»Wie funktioniert es?«, fragte er bemüht ruhig.
»Du weißt, dass Wasser bergab fließt?«
Avi nickte.
»Tja, mit Erinnerungen ist es dasselbe. Alle Erinnerungen der Menschen, die auf der Welt herumlaufen, fließen hinunter in meinen Palast. Und wenn sie hier ankommen, machen sich meine Mädchen an die Arbeit und schreiben sie auf.«
Avi betrachtete die Frauen, die Schreibmaschinen und Computer bearbeiteten oder altmodisch mit Stift und Papier hantierten. Er stellte fest, dass die Kabel ihrer Kopfhörer im Becken mündeten, das nun nicht mehr viereckig, sondern oval war und von langem Gras eingefasst wurde.
»Das ist mein Schreibbüro«, verkündete McNemosyne.
Verdattert schüttelte Avi den Kopf. »Soll das heißen, dass die Erinnerungen jedes Menschen hier landen? Jeder einzelnen Person?«
»Bis zum letzten Menschen.«
»Aber das sind so viele. Wie verarbeitet ihr das alles? In diesem Tempo kann man gar nicht tippen.«
»Ganz richtig, mein Junge. Stört es dich, wenn ich rauche? Ich könnte sterben für eine Zigarette.«
Als Avi den Kopf schüttelte, zündete McNemosyne sich wieder eine an und zog kräftig daran, ehe sie fortfuhr. »Manchmal glühen die verdammten Tasten. Allerdings ist das nicht das einzige Schreibbüro, mein Junge. Es gibt eine ganze Reihe davon. Mein Palast erstreckt sich viel weiter, als du dir vorstellen kannst oder als ich dir zeigen könnte.«
»Trotzdem.«
McNemosyne musterte ihn durch eine Rauchwolke. »Du bist mir aber ein ganz Schlauer. Und um ehrlich zu sein, lassen meine Mädchen eine Menge Einzelheiten unter den Tisch fallen. So ist es nun einmal mit Erinnerungen – eins führt zum anderen, wie sich Ringe auf einem Teich ausbreiten. Solange man sich merkt, wo der Stein ins Wasser gefallen ist, ergibt sich der Rest automatisch. Man könnte sagen, dass sich die Bücher zum Großteil von selbst schreiben.«
»Du meinst die Erinnerungsbücher?«
»Ja, richtig. Ein Buch für jeden, und jedes Buch hat seinen Platz. Und da du jetzt weißt, wozu mein Palast gut ist, ist nun der Zeitpunkt, mir zu verraten, was du hier willst.«
Avi straffte die Schultern. »Ich … ich würde gern mein Erinnerungsbuch sehen.«
»Na, das habe ich mir fast gedacht. Eigentlich verstößt es ja gegen die Vorschriften, aber …«, sie warf einen Blick auf Roosevelt, »… angesichts dessen, wer du bist und dass du von einem Wächter begleitet wirst, können wir eine Ausnahme machen. Warte hier.«
Sie hastete den nächsten Flur hinunter.
»Sagt sie die Wahrheit?«, erkundigte Avi sich bei Roosevelt.
»Woran genau zweifelst du?«, gab der zurück.
Die Bücherregale gingen in alle Richtungen und schienen sich in die Unendlichkeit zu erstrecken. Bald war McNemosyne nur noch ein beweglicher Punkt in der Ferne. Das Klappern der Schreibmaschinen hatte eine fast einlullende Wirkung. Avi suchte sich willkürlich einen Gang aus, schlenderte ihn entlang und strich mit den Fingern über die Bücher. Er fragte sich, wie viele Leben er wohl berührte und wem sie gehörten.
Plötzlich explodierte ein Buch über ihm mit einem Knall und löste sich in einer Staubwolke auf, so dass Papierfetzen auf Avi hinunterregneten. Hustend klopfte er seine Kleider ab.
»Was war das?«,
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