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Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Titel: Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fairchild
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wunderte er sich. »Ich habe das Buch doch gar nicht angefasst.«
    »Wieder hat einer ins Gras gebissen«, erwiderte Roosevelt mit finsterer Miene.
    »Verzeihung?«, fragte Avi.
    »Wenn jemand stirbt, gilt das auch für seine Erinnerungen«, erklärte der Wächter.
    »Einfach so?« Die Vorstellung, dass sich Erinnerungen spurlos in Luft auflösten, machte Avi traurig.
    »Einfach so«, antwortete Roosevelt.
    Avi schlenderte weiter. Auf dem Regal stand ein auffallend dünnes Buch, dessen roter Einband noch schimmerte. Es war nicht viel dicker als eine Broschüre. Ein Kind, dachte er, nahm das Buch vom Regal und schlug die erste Seite auf.
    Roosevelt riss es ihm aus der Hand und stellte es hastig zurück. Der dicke Mann wischte sich mit einem gewaltigen getupften Taschentuch den Schweiß von der Stirn und schleppte Avi aus dem Gang.
    »Tu das nie wieder«, tadelte er.
    »Entschuldigung«, sagte Avi. »Das war sicher sehr unhöflich von mir.«
    »Unhöflich? Mein Junge, es ist nicht nur unhöflich, sondern äußerst gefährlich! In den Erinnerungen anderer Leute zu blättern, kann sowohl beim Leser als auch beim Objekt seines Interesses zu großer Verwirrung führen. Grenzen können … verschwimmen.«
    Avi erschauderte. So wundersam dieser Ort auch war, er steckte doch voller verborgener Gefahren.
    Endlich kehrte McNemosyne mit einem ebenfalls in Rot gebundenen, schlichten Band zurück.
    »Ach, verzeih, dass du so lange warten musstest. Das Buch war falsch eingestellt. Wirklich eigenartig. Außerdem musste ich es auf den Schimmel des Vergessens untersuchen.«
    »Schimmel des Vergessens?«
    »Ja, es kann hier unten ziemlich feucht werden. Dann dringt der Schimmel des Vergessens in die Seiten ein und fängt an, die Wörter zu zerstören. Und ehe man sich versieht, haben die Leute alles vergessen.«
    Sie hielt Avi das Buch hin. Aber als er danach greifen wollte, hielt sie es fest.
    »Lies nicht alles auf einmal, mein Junge«, meinte sie und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Erinnerungen wachsen langsam, wenn du verstehst, was ich meine. Weißt du noch, was ich dir über die Ringe auf dem Teich gesagt habe? Ja, genauso funktioniert es. Die Erinnerung ist kein großer dicker Klumpen, sondern eine Kettenreaktion.«
    »Ich habe verstanden.«
    »Sehr gut. Und wenn man sie zurückerlangen will, gilt das gleiche Prinzip. Du möchtest dir doch nicht den Magen verderben, oder?«
    »Ich werde vorsichtig sein«, antwortete Avi. Endlich gab sie das Buch frei.
    »Und du kannst es nicht mitnehmen. Wir sind hier keine Leihbücherei.«
    Roosevelt legte den Arm um sie. Es sah aus, als umarme ein Bär eine Maus. »Aber natürlich, meine liebe Muse. Wollen wir den lieben Jungen das Buch lesen lassen und währenddessen ein wenig plaudern? Hier, erlaube mir, dir meine Visitenkarte zu überreichen …«
    Nachdem er Avi kräftig zugezwinkert hatte, schob er McNemosyne zurück zu ihrem Schreibtisch.
    Avi suchte sich ein ruhiges Plätzchen am Rande des Beckens und setzte sich. Das Buch fühlte sich eigenartig alltäglich an. Es müsste doch schwerer sein, dachte er. Jetzt halte ich mein Leben in Händen.
    Einerseits wollte er das Erinnerungsbuch unbedingt aufschlagen und alles wiederfinden, was er vergessen hatte, andererseits hätte er es am liebsten ins Wasser geworfen. Roosevelt hatte ihn gewarnt, es sei gefährlich, die Erinnerungen anderer Menschen zu lesen. Galt das vielleicht auch für die eigenen?
    Vielleicht gibt es ja Dinge, die ich besser vergessen sollte.
    Doch die Versuchung war zu groß. Avi holte tief Luft, öffnete das Buch und begann zu lesen.

Kapitel 10
    D unkle Straßen, ein hochgewachsener Mann und eine alte Dame mit rosafarbenem Haar. Ich renne so schnell, dass die Luft in meinen Lungen brennt wie Feuer. Und er verfolgt mich. Über die Sperre und die Rolltreppe hinunter. Im Mund ein metallischer Geschmack. Ich versuche, den Leuten auszuweichen, bin aber zu ungeschickt. Die Rolltreppe bewegt sich aufwärts, doch ich bin schneller. Unten angekommen, drehe ich mich um. Er steht oben, lacht zu mir hinunter und will mir nach. So schnell.
    Ich renne durch Gänge mit gewölbten Wänden. Heißer Wind schlägt mir ins Gesicht. Ich dränge mich durch das Menschengewühl auf dem Bahnsteig. Am Ende des Bahnsteigs beginnt ein dunkler Tunnel. Tief darin leuchtet ein Licht. Das Auge des Wurms! Er ist hinter mir. Immer hinter mir. Seine Hände brennen. Die Flammen sind blau.
    Also springe ich, die Räder des Wurms kommen

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