Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
einzusperren! Die Zeitungen haben mich ganz plattgedrückt. Ich konnte nicht einmal die Flügel ausbreiten, um sie anders zu überkreuzen. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie es ist, einen Krampf in den Flügeln zu haben? Tja, vermutlich nicht, du Riesentrampel. Jetzt wirst du mich aber kennenlernen!«
Brucies Flügel schwirrten wie die eines Kolibris, als sie Avis Kopf umkreiste und ihn immer wieder in die Ohren kniff.
»Hey, lass das!«, protestierte er. »Brucie, es tut mir so leid, dass du eingesperrt warst. Aber du wolltest doch sicher nicht, dass Kellen dich erwischt.«
Brucie schwebte über der Kommode und verschränkte die Ärmchen vor der mageren Brust. Avi wollte noch etwas hinzufügen, als er Hannahs Hand auf der Schulter spürte.
»Ist das … was ich glaube, dass es ist?«, flüsterte sie.
Sofort hatte Brucie sie als neues Opfer ausgemacht. »Was?«, zischte sie. »Wofür hältst du mich denn?«
»Eine Fee?«, meinte Hannah.
Roosevelt stöhnte. »Das hast du dir selbst eingebrockt …«
»Pah! Feen!«, höhnte Brucie und reckte mit überschlagenen Beinen einen Fuß in die Luft. »Typisch Sterbliche!«
»Brucie ist eine Elfe «, erklärte Avi. »Hannah, ist alles in Ordnung?«
Hannah war zu der Matratze hinübergetaumelt, saß nun da und ließ den Kopf zwischen die Knie hängen. »Gib mir nur eine Minute. Es ist bloß … als du vorhin sagtest, du müsstest jemanden treffen, dachte ich, dass …« Ihre Stimme erstarb.
»Es ein Mensch ist?«, beendete Avi den Satz. Brucie steckte sich zwei winzige Finger in den Hals.
»Es war eben ein ereignisreicher Tag«, sagte Hannah mit einem schwachen Lächeln.
»Jetzt zurück zu dir, Avi«, schimpfte Brucie. Das Schwirren ihrer Flügel verursachte einen hohen Ton, der dem Summen einer Mücke ähnelte. »Habe ich vorhin das Wort Entschuldigung gehört?«
»Ja«, erwiderte Avi. »Brucie, es tut mir wirklich leid, dass ich dich vergessen habe. In letzter Zeit vergesse ich eine ganze Menge und erinnere mich nur allmählich.«
»Ich verzeihe dir unter einer Bedingung.«
»Du kriegst alles, was du willst.«
»Gib mir etwas zu essen. Ich sitze jetzt seit fast einer Woche in dieser Schublade und bin am Verhungern. «
Roosevelt kicherte im Eingang. »Unsere Elfenfreundin übertreibt. Wir alle wissen, dass du wochenlang ohne Essen und Trinken auskommst.«
Brucie setzte sich auf die Kommode und beäugte den beachtlichen Wanst des Wächters. »Mit dieser Methode solltest du es auch mal probieren.«
Bis jetzt hatte Avi ihre Flügel nicht richtig sehen können, weil sie dauernd in Bewegung gewesen waren. Sie waren hauchzart und mit feinen Silberfäden durchzogen, in denen sich das Licht brach.
»Bist du damit zufrieden?«, meinte Hannah und förderte aus ihren Taschen Wurstbrötchen und Schokoladentafeln zutage. Dann nahm sie einen Tetrapack Orangensaft aus der Handtasche.
»Avi«, sagte Roosevelt und betrat endlich den Raum. »Ich bin so froh, dass du diese tüchtige junge Dame mitgebracht hast.«
»Elfen sind zuerst dran!«, rief Brucie.
Hannah klopfte neben sich auf die Matratze. »Komm, Avi«, forderte sie ihn auf. »Essen wir etwas.«
Roosevelt, der sich besondere kulinarische Fachkenntnisse zuschrieb, übernahm die Verteilung, was hieß, dass er die größten Wurstbrötchen und die Schokolade mit den meisten Haselnüssen abbekam. Zum allgemeinen Erstaunen vertilgte Brucie fast genauso viel wie der übergewichtige Wächter.
»Wo steckst du das alles hin?«, wunderte sich Hannah mit weit aufgerissenen Augen, als Brucie das zweite Wurstbrötchen verschlang.
»Beim Fliegen verbrennt man viel Energie«, erklärte sie schmatzend. »Ein Jammer, dass es Essen von Sterblichen ist. Das hat mir nämlich nie so richtig geschmeckt.«
»Also bist du nicht sterblich?«, erkundigte sich Hannah.
»Ich vergesse immer wieder, wie schwer von Begriff ihr Menschen seid. Ich bin eine Elfe, kapiert?«
»Dann ist das also alles echt?«, fragte Hannah.
»Was meinst du mit alles, meine Liebe?«, erkundigte sich Roosevelt.
»Was du vorhin erzählt hast. Die Sache mit dem Reich der Sterblichen und dem Feenreich. Da kommt ihr alle her, richtig?«
»Selbstverständlich.« Brucie rülpste und fuhr fort. »Er auch.« Sie zeigte auf Avi.
Die Worte trafen Avi wie ein Schwall Eiswasser. Selbstverständlich, dort gehörte er hin. Nicht in dieses abgewrackte besetzte Haus und schon gar nicht in ein Eisenbett in einem gesichtslosen Londoner Krankenhaus. Er war
Weitere Kostenlose Bücher