Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
brachte aber keinen Ton heraus.
»Durin ist tot«, erwiderte Hannah in tröstendem Tonfall.
»Ach, verdammt«, rief Brucie. »Wie gewonnen, so zerronnen.« Erschrocken blickte Avi auf. Eigentlich hatte er mit mehr Trauer gerechnet, doch Brucie war schon einen Schritt weiter. »Dann musst du gehen, Avi. Hör nicht auf Roosevelt. Wenn Durin nicht mehr lebt, ist deine Mutter deine einzige Hoffnung.«
»Durin hat mir Avi anvertraut«, widersprach Roosevelt.
»Dann tu deine Pflicht!«, zischte Brucie. »Du hast es dir in der Welt der Sterblichen schön gemütlich gemacht und offenbar vergessen, warum du überhaupt hier bist. Befolge den Befehl des Orakels und beschütze den Erben. Und zwar um jeden Preis!«
Ihr plötzlich gar nicht mehr scherzhafter Tonfall erschreckte Avi.
»Was habe ich eigentlich falsch gemacht?«, fragte er.
»Ich hatte ein schönes Leben«, beklagte sich Roosevelt. »Mit Kontakten zum Parlament und einer gesellschaftlichen Stellung. Durin, wie konntest du nur so unvorsichtig sein, dich umbringen zu lassen!«
Brucie achtete nicht auf ihn. »Avi, Kellen ist gefährlich. Er will dich töten, und zwar nicht aus persönlichen Gründen, sondern für das, was du bist und wofür du stehst. Je länger du in dieser Welt bleibst, desto größer ist das Risiko.«
»Wofür stehe ich denn?«, hakte Avi nach.
Brucie seufzte entnervt auf. »Das ist eine lange Geschichte, vor allem, wenn man sie jemandem erzählen muss, der sein Gedächtnis verloren hat.«
»Das ist doch wohl nicht meine Schuld!«, protestierte Avi. »Aber wenn die Geschichte so lang ist, erzählst du sie mir eben später.«
»Warum?«
Avi holte tief Luft. Hier in der Welt der Sterblichen gab es für ihn nur Angst und Fragen. Die Antworten lagen auf der anderen Seite – im Feenreich.
»Weil ich entschieden habe, was ich tun werde.«
»Dieser Tonfall macht mich argwöhnisch«, sagte Roosevelt. »Hast du dir überlegt …?«
»War eigentlich eine Katze im Zimmer, als wir vorhin reingekommen sind?«, unterbrach Hannah.
Alle drehten sich um. Unter dem Fenster, mitten in dem Haufen aus Schokoladenpapier und Plastikfolie, die Roosevelt dort hingeworfen hatte, saß eine struppige, getigerte Katze und leckte sich genüsslich die Pfoten.
»O nein!«, rief Avi.
»Was ist los?«, fragte Roosevelt. »Fürchtest du dich jetzt nicht nur vor Tauben, sondern auch vor Katzen?«
Brucie versetzte ihm eine Ohrfeige. »Offenbar bist du im Ruhestand dumm geworden, Wächter. Vor allem du solltest wissen, dass streunende Katzen als Schädlinge gelten, und wo Schädlinge sind, sind auch Kundschafter.«
Die Katze erhob sich, machte einen Buckel und fauchte.
Avi sprang auf. »Wir müssen sofort abhauen!«
Kapitel 12
B rucie flatterte mit den Flügeln und verschwand in einem Regen aus blauen Funken.
»Wo ist sie hin?«, fragte Hannah.
»Ich bin hier draußen«, rief Brucie. Avi und die anderen drehten sich um. Die Elfe erschien im Treppenhaus. »Die Luft ist rein.«
»Wahrscheinlich sollte ich nicht überrascht sein, dass sie das kann«, meinte Hannah und rieb sich die Schläfen.
Die Katze blickte ihnen aus Augenschlitzen nach, als sie, angeführt von Roosevelt, den Raum verließen. Avi bildete die Nachhut und knallte der Katze die Tür vor der Nase zu. Bloß kein Risiko eingehen, dachte er.
Obwohl sie nicht wussten, ob Kellen hinter ihnen her war, rannten sie, so schnell sie die Füße trugen. Brucie flog immer ein Stück voraus und kehrte wieder zurück. Sie benutzten Nebenstraßen, dunkle Seitengassen und Unterführungen und folgten dabei immer der Elfe, bis diese sich vor einem hohen Wohnblock plötzlich in Luft auflöste.
»Wo ist sie denn hin?«, stöhnte Roosevelt. Von der körperlichen Anstrengung war er völlig durchgeschwitzt und wischte sich mit seinem Taschentuch die Stirn ab. Aus dem Schlitz eines Briefkastens drang ein blaues Leuchten, und Brucie kletterte heraus.
»Navigation war noch nie meine Stärke«, gab sie zu. »Los. Keine Müdigkeit vorschützen.«
»Weißt du eigentlich, wo du hinfliegst?«, erkundigte sich Avi.
»Einhundertzehnprozentig«, entgegnete Brucie, bevor sie erneut verschwand. Diesmal tauchte sie im Geäst eines Baums wieder auf, wo sie zappelte, dass es Blätter regnete.
Roosevelt schüttelte den Kopf, und Avi konnte nicht umhin, es ihm nachzutun. Als sie zum zweiten Mal an derselben geschlossenen Weinhandlung vorbeikamen, hob er die Hand.
»Brucie«, sagte er. »Bist du wirklich sicher?«
»So
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