Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Teil einer Welt, die so nah und doch so fern war, das geheime Reich des Feenvolks.
Nach Hause!
»Stimmt das, Avi?«, fragte Hannah leise. »Bist du wirklich einer von ihnen?«
»Hannah, ich weiß nicht, was ich bin. Aber ich glaube … ich glaube, wenn ich auf irgendeine Weise zurückkönnte, würde alles einen Sinn ergeben. Nur …«
»Nur was?«
»Kellen.«
»Dannhatterdischnischerwischt?«, nuschelte Brucie, den winzigen Mund voller Schokolade.
»Ein großes Mundwerk hat sie ja«, merkte Roosevelt an. »Ein Jammer, dass sie so auf der Leitung sitzt.«
»Hoppla!«, empörte sich Brucie und versetzte ihm mit einem Fuß, der nicht größer war als Avis Daumen, einen Tritt. »Dann hat er dich nicht erwischt?«, wiederholte sie ihre Frage an Avi.
»Das ist doch wohl offensichtlich«, erwiderte er. »Aber er war nah dran, Brucie, wirklich nah. Er hat mir schreckliche Angst gemacht. Außerdem kann er entsetzliche blaue Flammen aus seinen Händen schießen lassen. Wenn Durin nicht gewesen wäre …«
»Blaue Flammen?«, keuchte Brucie. Sie ließ den Rest ihrer Schokoladentafel fallen und erbleichte.
»Ja. Warum?«
»Nichts«, zischte sie. »Das beweist nur, wie gefährlich Kellen ist. Da gibt es nur eine Lösung, Avi. Wir müssen nach Hause. Sobald du unter dem Schutz deiner Mutter stehst, kann Kellen nicht mehr …«
»Meiner Mutter? « Erinnerungen stiegen auf wie Blasen, weigerten sich aber zu platzen. Avi hörte aus der Ferne eine dunkle, weiche Frauenstimme, doch er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Außerdem war ihr Gesicht hinter einem durchbrochenen weißen Schleier verborgen wie hinter einer Wand aus Schneeflocken.
»Wer sonst?«, wandte Brucie ungeduldig ein. »Schließlich herrscht sie über das Feenreich. Nun, wenigstens hat sie es getan, bis … Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, Avi. Kellen will deinen Tod. Und seit er wieder auf deiner Fährte ist, wird ihn nichts aufhalten können.«
Meine Mutter ist eine Königin! Heißt das, dass ich ein Prinz bin?
»Ich weiß nicht so recht«, widersprach Avi. »Kellen hätte mich im Krankenhaus umbringen können, wenn er gewollt hätte. Hat er aber nicht. Stattdessen wollte er mich mitnehmen. Zurück dorthin.«
Draußen auf der Straße trat jemand einen Mülleimer um. Gebrüll und die Geräusche einer Prügelei hallten durch die Nacht.
Roosevelt knüllte das leere Einwickelpapier zusammen und warf es durchs Zimmer. »Mein lieber Junge«, sagte er, »ist dir eigentlich klar, was für einen Unsinn du daherredest? Begreifst du denn nicht, dass du in dieser Welt hier nicht getötet werden kannst?«
Es war, als wäre er auf eine vor Jahren vergrabene Truhe gestoßen, würde sie jetzt öffnen und auf viele vergessene Wahrheiten stoßen. Es handelte sich nicht um Erinnerungen im eigentlichen Sinn, denn Avis Gedächtnisverlust hatte sich noch nicht gelegt. Aber es gab Dinge, die er einfach wusste.
Ich komme aus dem Feenreich.
In der Welt der Sterblichen bin ich unsterblich. Meine Mutter ist … meine Mutter ist …
Doch der Deckel der Truhe hatte sich wieder geschlossen.
»Was soll das heißen, er kann nicht getötet werden?«, fragte Hannah.
Roosevelt packte Avi am Arm und schüttelte ihn. »Das ist der Junge, dessen bedauernswerter Körper von einer Untergrundbahn zermalmt wurde. Macht er einen kranken Eindruck auf dich?«
Avi riss sich los. »Schon gut«, protestierte er. »Warum stellst du mich nicht gleich in einem Kuriositätenkabinett aus?«
Etwas stimmte da nicht. Der Radau auf der Straße hatte aufgehört, und es war still geworden. Zu still.
»Dieses ganze Gerede ist ja schön und gut«, meinte Avi mit Blick zur Tür. »Doch eigentlich kommt es nur auf eine Entscheidung an.«
»Und die wäre?«, erkundigte sich Hannah.
»Ob ich in dieser Welt bleibe oder wieder nach Hause gehe«, entgegnete er.
Das Schweigen dauerte an.
»In diesem Fall«, meldete sich Roosevelt zu Wort, »würde ich dir empfehlen, nicht auf den sogenannten Rat dieser Elfe zu hören, die meint, du solltest nach Hause zurückkehren.«
»Wirklich«, wunderte sich Avi. »Ich dachte, du wärst dafür.«
»Ich habe es mir anders überlegt.«
»Und was ist, wenn ich es mir auch anders überlege?«
»Avi, davor würde ich dich warnen. Laut Durin ist es der Wunsch des Orakels, dass du hierbleibst.«
»Und wenn Durin sich geirrt hat?«
Brucie unterbrach, indem sie Avi aufs Knie tippte. »Wo ist denn eigentlich Durin?«, wollte sie wissen.
Avi wollte antworten,
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