Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Gebäudes, aus traditionellen Materialien errichtet. So traditionell, dass als Bindemittel im Kalksteinmörtel Ziegenhaare verwendet wurden.«
Einige Touristen lachten, andere verzogen angewidert das Gesicht.
»Ich kapiere das nicht!«, raunte Avi. »Ist das Gebäude nun echt oder nicht?«
»Es ist ein gelungener Nachbau des ursprünglichen Bauwerks«, flüsterte Roosevelt. »Und deshalb so echt, wie es sein sollte. Für unsere Zwecke ist es wichtig, dass es genau an derselben Stelle steht wie Shakespeares erstes Globe Theatre, weshalb sich die Brücke, die wir suchen, noch an ihrem angestammten Platz befindet.«
»Und wo ist der?«, fragte Avi und sah sich in der Arena um.
»Psst, der Zeitpunkt naht, an dem wir zuschlagen müssen.«
Als der Fremdenführer seine Amerikaner in den Ausstellungsbereich im hinteren Teil des Theaters begleitete, blieben Avi und Roosevelt zurück. Sobald sie allein waren, schob Roosevelt Avi an einer großen Marmorsäule vorbei auf die Bühne. Avi klopfte mit den Knöcheln auf die Säule. Sie klang hohl.
»Die ganze Welt ist eine Bühne,
Und wir sind nur die Schauspieler,
Die auf- und wieder abtreten;
Und jeder Mensch spielt viele Rollen in seiner Zeit«, rezitierte Roosevelt.
»Nun«, meinte Avi. »Dann treten wir jetzt offenbar ab.«
»Was?«
»Du und ich verlassen diese Welt.«
Avi hielt inne, um Brucie aus dem Rucksack zu helfen. Als er aufblickte, stellte er fest, dass Roosevelt an den Rand der Bühne gegangen war. Er stand nachdenklich und mit gesenktem Kopf da und hatte die Finger auf dem Rücken verschränkt.
»Roosevelt?«, fragte Avi. »Wo ist denn nun die Brücke?«
Der dicke Mann drehte sich herum. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte so gekünstelt wie das der bemalten Maske über der Bühne.
»Folge mir!«
Er eilte zur Mitte der Bühne, wo er in die Knie ging und eine Falltür öffnete. Avi spähte in die Dunkelheit hinab.
»Das soll es sein?«, meinte er zweifelnd. Brucie blickte ihm über die Schulter und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Selbstverständlich«, verkündete Roosevelt. »Der große Barde selbst ist einmal in diese Falltür gestürzt, als er nach einer besonders erfolgreichen Premiere zu viel Bier getrunken hatte. Er plumpste mitten ins Feenreich hinein. Wie er wieder herausgekommen ist, nun, das ist eine andere Geschichte. Dieses Erlebnis hat er zu einem Theaterstück verarbeitet. Ein Jammer, dass es bis heute als erfundene Geschichte gilt.«
Der Himmel über dem Dach war dunkelblau geworden. Die Lichter im Theater verloschen nacheinander.
»Bald tritt der Sicherheitsdienst seine Schicht an«, sagte Roosevelt. »Avi, für dich ist die Zeit gekommen, zu gehen.«
»Nicht nur ich, Roosevelt. Wir bleiben doch alle zusammen, oder?«
»Wenn du auf der anderen Seite bist, musst du unter allen Umständen das Orakel aufsuchen. Lass dich durch nichts davon abbringen. Nur beim Orakel bist du in Sicherheit.«
»Also, ich hänge hier nicht mehr länger herum als nötig«, meinte Brucie. »Wir sehen uns drüben.«
Sie zog die Flügel ein und sprang durch die Falltür. Avi wartete auf ein Zeichen, dass sie gut angekommen war, einen Lichtblitz vielleicht oder eine Rauchwolke, aber nichts geschah. Zehn Sekunden später lugte Brucies Kopf wieder durch das Loch in der Bühne.
»Also hat es nicht geklappt«, stellte Avi fest.
»Wo denkst du hin?«, rief Brucie. »Ich bin nur zurückgekommen, weil ich wissen wollte, wo du bleibst.«
Avi spürte, wie sich ihm der Magen zusammenkrampfte. »Also ist es wirklich dort.«
»Ja«, erwiderte Brucie. »Ist es.«
Als sie wieder verschwand, bemerkte Avi eine plötzliche Bewegung. Zwei Ratten tauchten hinter der Säule aus falschem Marmor auf. Avi fragte, ob der Sicherheitsdienst wohl von der Rattenplage wusste.
Die Ratten stellten sich auf die Hinterbeine, dann begannen sie sich zu verwandeln.
»Spring, Avi«, sagte Roosevelt. »Ich werde mein Bestes tun, um sie aufzuhalten.«
Doch eine der Ratten hatte sich schon auf ihn gestürzt. Winzige Krallen schlossen sich um Avis Handgelenk und wurden dabei zu Fingern. Der kleine Körper der Ratte hing kurz an der überdimensioniert wirkenden Hand und blies sich dabei auf wie ein Ballon. Die Verwandlung wurde von dem gleichen Knirschen begleitet, an das Avi sich noch vom Observatorium erinnerte. Wenige Sekunden später schlang der Kundschafter ihm die Arme um die Brust und versuchte, ihn von der offenen Falltür wegzuzerren.
Sein stinkender Atem schlug Avi ins
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