Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Titel: Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fairchild
Vom Netzwerk:
Gesicht. Avi wehrte sich aus Leibeskräften, aber seine Arme wurden hinter dem Rücken festgehalten, so dass seine Beine hilflos über die Bühnenbretter scharrten, während er immer weiter von der Brücke fortgeschleppt wurde.
    »Fort mit euch, ihr Kroppzeug!«, rief Roosevelt. Er stellte sich dem anderen Kundschafter entgegen, der die Verwandlung von Ratte zu Kobold bereits vollzogen hatte und nun ein langes, schmales Schwert mit einem Korken an der Spitze zutage förderte.
    »Vorsicht!«, rief Avi.
    »Keine Angst!«, entgegnete Roosevelt. »Das ist nur eine Bühnenrequisite.«
    Der Kundschafter fletschte die spitzen Rattenzähne, entfernte damit den Korken von der Klinge und ließ sie durch die Luft sausen, dass es klang wie eine Guillotine. Roosevelt wich zurück.
    Der Kundschafter, der Avi umklammert hielt, wurde dadurch abgelenkt und blieb stehen, so dass Avi Gelegenheit hatte, ihn gegen das Schienbein zu treten. Zwar heulte der Gegner auf, schlang jedoch die Arme noch fester um Avis Brust. Währenddessen näherte sich der Kundschafter mit dem Schwert Roosevelt, der schon beinahe den Bühnenrand erreicht hatte. Kurz geriet der massige Wächter ins Schwanken und ruderte mit den Armen. Im nächsten Moment packte der Kundschafter ihn an der Krawatte und zog ihn hoch. Für so ein mageres Geschöpf war er erstaunlich stark.
    Roosevelts Gesicht befand sich auf einer Höhe mit dem des Kundschafters. Seine Augen weiteten sich überrascht, so dass sein Monokel herausfiel.
    »Du!«, rief er.
    Der Kundschafter ließ den Wächter los und marschierte mit erhobenem Schwert auf Avi zu. Avi wollte sich losreißen, doch sein Gegner gab ihn nicht frei. Der Kundschafter näherte sich, bis seine Zehen die von Avi berührten. Er holte mit dem Schwert aus … und zögerte.
    Zum ersten Mal fiel Avi auf, dass diese sich ständig wandelnden Geschöpfe mehr waren als nur Ungeheuer. Eigentlich wirkte das Gesicht, das auf ihn herunterstarrte, gar nicht abstoßend. Kluge Augen unter einer hohen Stirn musterten ihn. Das Wesen war zwar unrasiert, aber die Stoppeln auf seinem schmalen Gesicht schienen so weich zu sein wie Wattebäusche. Die spiralförmigen Rillen in seinen seltsam geformten Ohren wurden nach innen hin immer schmaler.
    Der Kundschafter umfasste das Schwert fester. Avi schloss die Augen und wartete auf das Ende.
    Stattdessen erklang wieder das an eine Guillotine erinnernde Zischen, gefolgt von einem schmatzenden Geräusch und einem langgezogenen Gurgeln. Als Avi die Augen aufschlug, stellte er fest, dass der Kundschafter seinem Kumpan das Schwert mitten in die Brust gestoßen hatte. Warme, widerlich stinkende Flüssigkeit ergoss sich auf Avi.
    Der Kundschafter mit dem Flaum im Gesicht beugte sich zu ihm hinunter. »Flieh«, sagte er.
    Im ersten Moment konnte Avi sich nicht rühren. Er fühlte sich, als drehte sich das ganze Theater samt Inventar um ihn: die Bühne, die runde Mauer, die sie umgab, die Sitzreihen auf der Empore, Roosevelt, der noch von seinem Zusammenstoß mit dem Kundschafter schwankte, und der Kundschafter selbst. Dieser bedachte Avi mit einem Blick, den er nicht deuten konnte. War es Besorgnis? Angst? Hoffnung?
    Der Kundschafter trug ein Medaillon um den Hals, das in der Dunkelheit Funken sprühte, so dass Avi Sterne vor den Augen hatte.
    »Geh jetzt«, meinte das Wesen fast freundlich.
    Während Avi zur Falltür rannte, hob Roosevelt grüßend die Hand, trat von der Bühne und verschwand im Schatten. Avi schlitterte die letzten beiden Meter über die Bühnenbretter und fiel, wie schon Shakespeare vor ihm, durch das Loch in der Welt.

Kapitel 20
    F ür einen Sekundenbruchteil verlor Avi jegliche Orientierung. Er befand sich in einem Zwischenreich, und um ihn herum war Leere. Dennoch hallte in dieser Leere ein Geräusch wider, so tief, dass er es nicht mit den Ohren, sondern in der Brust wahrnahm. Es war wie ein Herzschlag oder das stete Pulsieren einer gewaltigen Maschine.
    Dann war es plötzlich verschwunden, und Avi stürzte den restlichen Weg durch die Falltür. Er landete auf etwas, das gleichzeitig weich und stachelig war, und fing an zu niesen. Da hielten ihm zwei winzige Hände die Nase zu.
    »Still, man weiß nie, wo Kellen seine Kundschafter postiert hat«, zischte eine vertraute Stimme.
    Avi unterdrückte einen zweiten Nieser und versuchte, sich zurechtzufinden. Er lag bäuchlings auf einem Strohhaufen. Zwei Meter über seinem Kopf sah er die Falltür. Blaues Zwielicht, in dem Staubflocken tanzten,

Weitere Kostenlose Bücher