Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
hier unten sind verdächtig groß.«
»Der Kundschafter«, sprach Avi weiter, als sie die grob gehauenen Stufen hinaufstiegen, die aus dem Keller hinausführten. »Brucie, er hat mich gerettet. Da bin ich ganz sicher.«
»Das ist ziemlich unwahrscheinlich«, entgegnete Brucie. »Und jetzt beeil dich. Wir sind noch nicht in Sicherheit.«
Draußen dämmerte es genauso wie in der Welt der Sterblichen.
Aber ich bin nicht mehr dort! Ein aufregender Gedanke.
Eine gewundene Straße verlief am Theater entlang. Sie war schmal, kopfsteingepflastert und verschneit. In ihrer Mitte befand sich eine mit Eis gefüllte Rinne. Avi erinnerte sich an die unterirdischen Gänge in der British Library, wo Wasser durch ähnliche Rinnen geflossen war.
»Ist das die Gosse?«, fragte er.
»So ungefähr«, meinte Brucie und schwirrte voraus. »Ein Abwassersystem haben wir bis jetzt noch nicht.«
Sie kamen an einer Reihe von kleinen Fachwerkhäusern vorbei. Hinter winzigen Bleiglasfenstern flackerten Kerzen. Die oberen Stockwerke ragten über die Straße und berührten fast das Dach des Theaters.
»Das alles sieht sehr altmodisch aus«, stellte Avi fest.
»Was hast du erwartet? Das Reich der Sterblichen hat sich in die eine Richtung entwickelt, das Feenreich in die andere.«
»Ich verstehe kein Wort.«
Brucie boxte mit ihren kleinen Fäusten in die Luft. »Ach, es ist zum Aus-der-Haut-Fahren, dass du dich an nichts erinnern kannst!«
»Ich bitte untertänigst um Entschuldigung.«
»Ich habe es dir doch schon einmal erklärt: Vor langer Zeit waren die beiden Reiche eins – nun, mehr oder weniger. Jedenfalls hatten Sterbliche und Feen viel mehr miteinander zu tun als heutzutage. Und dann, eines Tages, vor ein paar hundert Jahren – Peng! «
»Peng?«
»Genau. Unsere Wege haben sich getrennt. Das Reich der Sterblichen hat sich abgetrennt und ist, wenn du mich fragst, seitdem in Auflösung begriffen. Die Sterblichen stürzten sich mit Feuereifer auf die Mathematik und die Technik, während man im Feenreich vernünftig blieb und alles so beließ, wie es war.«
Avi schnupperte. »Ich wusste doch, dass hier etwas anders ist.«
»Mehr als nur etwas.«
»Die Luft ist so sauber. Lass mich raten. Im Feenreich gibt es keine Autos.«
Brucie landete auf seiner Schulter und drückte ihm strahlend einen feuchten Elfenkuss auf die Wange, der sich anfühlte wie ein Regentropfen.
»O Avi«, meinte sie mit funkelnden Augen. »Du hast ja keine Ahnung!«
Brucie flog so schnell durch die gewundenen Straßen, dass Avi rennen musste, um nicht abgehängt zu werden. Die kalte, frische Luft füllte seine Lungen und belebte seinen Körper von Kopf bis Fuß. Seine Kopfschmerzen verschwanden, und er fühlte sich wieder hellwach und erholt.
Sie begegneten zwar keinen Passanten, dafür aber jeder Menge Tieren. Avi schreckte eine Hasenfamilie auf, die sofort die Flucht ergriff. Kurz darauf stand er vor einem Rentierbullen. Das Rentier schnaubte, schwenkte sein prächtiges Geweih und galoppierte davon. Ab und zu hörte er in der Ferne ein Heulen, das nur von Wölfen stammen konnte, doch zu seiner Erleichterung bekamen sie keinen davon zu Gesicht.
Als Avi um die Ecke in die nächste Gasse einbog, konnte er Brucie nirgendwo entdecken.
»Brucie?«, rief er. Er wollte anhalten, geriet jedoch auf dem vereisten Kopfsteinpflaster ins Rutschen. »Brucie, wo bist du?«
Mit rudernden Armen schlitterte er die Straße entlang in eine Schneeverwehung, wo es ihm die Füße wegzog, so dass er unsanft auf dem Hinterteil landete.
Und da war sie, die Stadt, die er einst verlassen und nun wiedergefunden hatte. Das andere London, das vor vielen Jahren im Fluss der Zeit Anker geworfen hatte, damit die Welt der Sterblichen an ihm vorbeiziehen konnte. Das Feenlondon, die Stadt auf der anderen Seite des Zwischenreichs.
Der Fluss war dasselbe gewaltige Band, das im Zwielicht dunkelblau schimmerte. Allerdings waren seine Ufer dicht überwuchert. Die Wurzeln mächtiger Weiden bohrten sich durch die Mauern der Uferböschung, die zum Großteil längst zu Schutt zerfallen waren, so dass das Wasser in die Straßen rann, wo weitere Bäume wuchsen. Einige hatten sogar in den Häusern Wurzeln geschlagen und trugen die verschneiten Dächer wie Hüte.
Nur wenige Gebäude wirkten bewohnt. In vielleicht einem von zwanzig winzigen Fenstern flackerte eine Laterne. Trotz der vielen Kamine qualmte es kaum, weshalb die Luft köstlich rein war. Die Sterne standen leuchtend klar am
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