Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
abzusuchen und jeden einzelnen Kieselstein umzudrehen, bis er die Burg gefunden hatte.«
»Und wie lange hat das gedauert?«, erkundigte sich Fugit.
»Zweieinhalb Monate!«, verkündete Foster.
Roosevelt verdrehte zwar nur die Augen, aber Fugit konnte nicht mehr an sich halten und brüllte vor Lachen. Avi dankte dem Schicksal dafür, dass er offenbar leicht zu erheitern war. Jedenfalls hatte es geklappt. Die Zeiger auf den vier Zifferblättern begannen sich zu drehen wie die Flügel einer Windmühle, so dass die Autos als regenbogenfarbiger Strom um den Parliament Square rasten.
Foster verbeugte sich tief und warf seiner Schwester eine Kusshand zu. Sie spuckte aus und vollführte einige komplizierte Bewegungen mit den Fingern, wie Avi annahm, eine Form der Beleidigung unter Elfen. Dann flog Foster zum offenen Fenster hinaus. Seine Flügel surrten wie kleine Kreissägen, als er einen letzten Purzelbaum schlug und in einer blauen Lichtwolke verschwand.
Langsam fasste Fugit sich wieder. Nachdem er zu lachen aufgehört hatte, rappelte er sich auf und kratzte sich ausgiebig durch sein Netzhemd.
»Also, meine Freunde«, verkündete er fröhlich. »Was kann ich für euch tun?«
»Sei einfach still und sieh zu«, meinte Brucie und ließ sich wieder auf Avis Schulter nieder. »Denn du wirst jetzt ein wahres Wunder erleben.«
»Ausnahmsweise bin ich deiner Ansicht«, erwiderte Roosevelt.
Sie standen nebeneinander da und spähten aus dem Fenster.
Dank der Tatsache, dass Fugit wieder gute Laune hatte, hatten sich die Dinge bereits in Bewegung gesetzt. Am deutlichsten war das an der Sonne zu erkennen, die wie ein gleißender Ball am Himmel hin und her flog, als hätte sie jemand geworfen. Bald war sie hinter den Häusern verschwunden. Der Himmel verfärbte sich erst orange, dann violett, und schließlich gingen in den Gebäuden die Lichter an.
Die Nacht verstrich in einem Wimpernschlag. Ein Tag kam und verging, diesmal sogar noch schneller als der letzte. Der tägliche Wechsel zwischen Tag und Nacht verwandelte sich in ein Flackern, so dass London eine unbestimmbare graue Färbung annahm. Der Verkehr auf der Brücke verschmolz zu einem kaum auszumachenden Geisterfluss. Die Themse erinnerte an eine Glasscheibe. Das London Eye wirbelte herum wie ein Glücksrad. Die Menschen waren ganz verschwunden.
Nach einer Weile wurde das Flackern wieder langsamer, bis ein Tag eine Minute dauerte. Menschen erschienen wie Phantome und huschten über die Brücke, als wollten sie so schnell wie möglich der Kälte entrinnen, denn es war plötzlich unbeschreiblich kalt geworden. Avi zog Durins Mantel fest um sich und war froh, dass er ihn behalten hatte.
Die Sonne sprang über die Dachfirste, nur um von einer dahinrasenden Wolke verschluckt zu werden. Die Wolken ballten sich zusammen, bis sie die ganze Stadt bedeckten. Im nächsten Moment hörten sie auf, sich zu bewegen. Sie schwebten einfach im Himmel und hingen tief über dem dahinkriechenden Verkehr und den Menschen, die ihren Erledigungen nachgingen. Von der Straße wehten Geräusche herauf: Motorenlärm und Stimmen, Sirenen aus der Ferne und das Dröhnen eines Flugzeugs. Die Welt war zur Normalität zurückgekehrt.
Es fing an zu schneien. Und mit dem kalten Wind, der plötzlich zum Fenster hineinpfiff, spürte Avi, wie etwas in ihm aufstieg – die Erinnerung an einen anderen Winter.
Als er sich davon forttragen ließ, stellte er fest, dass er nicht einmal das Buch aufgeschlagen hatte …
Kapitel 18
U nd dennoch ist die Szene so lebendig, vielleicht wegen des harten weißen Lichts, das durch die großen Fenster am nördlichen und südlichen Ende des Saals hereinfällt. Das Licht lässt alles, was es berührt, schärfer hervortreten. Es ist Winterlicht, schneidend wie die Klinge eines Messers, und es sorgt dafür, dass sich die Luft kalt und bedrohlich anfühlt.
Der Saal ist unbeschreiblich groß. Geschwungene, polierte Balken, den Rippen eines Riesen gleich, stützen eine hohe, reich verzierte Decke. Gobelins hängen von ihnen herunter, die an die Segel eines gewaltigen Schiffs erinnern. Sie sind mit unzähligen Heldenszenen bestickt. Tische, groß wie Brücken, stehen quer im Raum. Sie sind so breit, dass Hofnarren auf ihnen herumstolzieren können, ohne über die von Speisen überquellenden Platten zu stolpern. Ich stehe am Ende eines dieser Tische, neben mir ein rotwangiges Mädchen in einer weißen Schürze.
Auf einen Befehl werden überall in der Halle große Feuer
Weitere Kostenlose Bücher