Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
angezündet, die die Winterkälte vertreiben. Doch durch die Fenster ist gut zu erkennen, dass draußen Schnee fällt. Die Deckenbalken verschwinden im Rauch der Feuer. Mit dem Rauch steigt der Jubel der Gäste zur Decke, die aus einem Vorzimmer hereinströmen und ihre Plätze am Tisch einnehmen. Die Narren hören auf, hin und her zu schlendern, und schlagen Purzelbäume.
Das Hausmädchen, ich und all die hundert anderen dienstbaren Geister, die heute die Gäste versorgen, beginnen, das Essen zu verteilen.
Es handelt sich um ziemlich ungewöhnliche Speisen, doch auch die Gäste sind nicht alltäglich. Einige sehen aus wie ich und haben zwei Arme und Beine. Aber ich serviere auch Zentauren die Suppe und tranchiere einen Schinken für ein Trüppchen Harpyien. Einige Gäste haben Hufe, andere Hörner, Stielaugen oder Ohren, die vibrieren wie die Flossen eines Fischs. Denn heute ist die Zusammenkunft der Vielen, das Fest der Tagundnachtgleiche, wenn die Wärme der Gemeinschaft das Eis zurückdrängt und dafür sorgt, dass der längste Tag Wirklichkeit wird.
»Lasst mich dir helfen, junger Herr«, sagt das Dienstmädchen, als ich mich mit einem Tablett abmühe, das mit Gläsern voll mit schäumendem Likör überladen ist. Obwohl sie nicht singt, klingt ihre Stimme melodisch.
»Ich schaffe das schon, danke«, antworte ich. »Außerdem brauchst du mich nicht ›junger Herr‹ zu nennen.«
Das Dienstmädchen lacht auf. »Aber du bist ein Prinz und ich nur ein Dienstmädchen. Wie soll ich dich sonst ansprechen?«
»Einfach mit meinem Namen.«
Am nördlichen Ende der Halle bricht Tumult aus. Die riesigen Türen werden aufgerissen. Köpfe aller Größen und Formen drehen sich neugierig um.
Alle bis auf einen.
Am Kopf der Ehrentafel sitzt eine Frau. Sie ist dunkelhäutig und sehr schön und trägt ein Gewand aus schimmernder grüner Seide, das wie ein smaragdfarbener Wasserfall ihren Stuhl umfließt. Nur sie isst ungerührt weiter und würdigt den Störenfried keines Blicks.
Es ist Kellen.
Er marschiert durch die Halle direkt auf den Stuhl der Frau zu. Seine Gewänder sind so schwarz wie Rabenfedern und scheinen das Licht aufzusaugen. Als sein Umhang beim Gehen aufschwingt, sind unzählige Ledergürtel zu sehen, an denen Schwerter, schartige Messer, dicke Knüppel und zusammengerollte Würgeseile hängen. Ihm folgen andere Goblins. Anders als Kellen, der ein wahrer Hüne ist, sind sie kleingewachsen. Einige stützen sich auf ihre Hände und watscheln wie Affen durch den Saal. Auch sie sind bewaffnet, so dass Metall auf Metall schlägt und ein Geräusch erzeugt wie ein Windspiel, das durch den plötzlich stillen Saal hallt.
Und da ist noch jemand, der sich in Kellens Schatten hereingeschlichen hat. Sosehr ich mir auch den Hals verrenke, um seinen Begleiter zu erkennen, versperrt mir immer wieder etwas die Sicht: Kellens Gewand, das mürrische Gesicht eines Goblins oder der Kopf eines der Gäste, der auch etwas sehen will.
Inzwischen hat Kellen den Stuhl der Frau erreicht und dreht ihn herum. Sie tupft sich die Lippen ab und betrachtet ihn mit regloser Miene.
»Arethusa«, knurrt Kellen. »Wie kannst du es wagen, mich zu betrügen? Und dazu auch noch unseren Sohn?«
Seine Worte überraschen die Frau. Ihre abweisende Haltung verfliegt und wird von Wut abgelöst.
»Wie kommst du dazu, unseren Sohn in die Angelegenheit hineinzuziehen?«, entgegnet sie.
»Weil ich es so will«, gibt Kellen zurück.
Er winkt seinen geheimnisvollen Begleiter hinter seinen Gewändern hervor. Es ist ein blonder und gutaussehender Junge, einige Jahre älter als ich und eigentlich schon fast ein Mann. Er hat leuchtend grüne Augen, die durch den Raum schweifen und in den Qualm spähen, als suche er jemanden.
Die Frau schlägt die Hand vor den Mund, wie um einen Aufschrei zu unterdrücken oder zu verhindern, dass ihr die Kinnlade herunterfällt.
»Levi!«, ruft sie aus. »Was haben sie mit dir gemacht? Levi, bist du es wirklich?«
Als der Junge zögernd vortritt, hält Kellen ihn zurück. Die Frau streckt die Hände nach dem Jungen aus, doch Kellen beugt sich vor und fletscht die gelben Zähne.
»Der Zeitpunkt ist da, um über deinen Verrat zu sprechen, Arethusa. Und über die Buße.«
Da Kellens Goblins die beiden umringen, kann ich den Rest der Auseinandersetzung nicht beobachten. Ich spüre nur, wie sich die kleine Hand des Dienstmädchens um meine schließt und mich vom Tisch weg aus dem warmen Saal in den Schnee hinauszieht.
»Es
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