Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
um die Ecke spähte, sah er etwas Riesenhaftes aus dem Qualm aufragen. Sein erster Gedanke war, dem Wassergeist könnte die Flucht geglückt sein, und er kroch noch tiefer hinter den Strohballen. Der Boden unter ihm erbebte in regelmäßigen Abständen, als das Ungetüm näher kam. Es war nicht der Wassergeist, sondern ein gewaltiges Lasttier, das einen mit Silberbarren beladenen Karren zur Schmiede zog. Das Geschöpf hatte sieben Hörner und eine Haut wie ein Rhinozeros. Als es an dem Vordach vorbeikam, blieb es kurz stehen, um einen gewaltigen Dunghaufen abzusetzen, bevor es weitertrottete. Der Gestank raubte Avi den Atem.
»Wie ich sehe, hast du dir einen Platz in der ersten Reihe gesichert«, ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. Avi zuckte zusammen, beruhigte sich aber wieder, sobald er Brucie erkannte.
»Ein Glück, dass dieses Vieh mich nicht gewittert hat«, erwiderte er.
»Bei dem Gestank bestimmt nicht«, entgegnete Brucie und landete lautlos auf dem Strohballen. »Übrigens ist das hier nicht der richtige Turm.«
»Es ist der erste, den ich gesehen habe.«
»Gut, dass ich beobachtet habe, wie du aus dem Wasser gekommen bist. Du irrst herum wie ein verlaufenes Schaf. Jeder dieser Goblins hätte dich erwischen können. Ehrlich, Avi, große Mühe hast du dir nicht gegeben.«
»Du bist schließlich nicht diejenige, die durch den verdammten Fluss schwimmen musste«, protestierte er. »Und dann auch noch der Wassergeist. Hast du schon mal einen Wassergeist aus der Nähe erlebt, Brucie? Ich dachte, er beißt mir das Gesicht ab! Und zu allem Überfluss …«
»Hannah ist hier«, unterbrach ihn Brucie.
Plötzlich bereute Avi seinen Ausbruch. Das Blut pulsierte durch seine Adern, und ihm wurde gleich viel wärmer. »Wo ist sie? Hast du sie gesehen?«
Brucie nickte. »Sie sitzt im Kerker. Ich habe überall gesucht. Diese Bude strotzt nur so von Löchern, wenn man klein genug ist, um hindurchzupassen.«
»Kannst du mich zu ihr bringen?«
»Folge mir. Und pass auf, wo du hintrittst.«
Brucie führte ihn am Verrätertor vorbei zu einer Tür in der inneren Mauer. Um nicht durch blaue Rauchwolken die Wachen anzulocken, verzichtete sie darauf, wie üblich immer wieder zu verschwinden. In kurzen Etappen setzten sie ihren Weg fort und schlüpften von einer Nische zur nächsten. Kurz nach der Tür scheuchte Brucie Avi hinter einen Karren, auf dem sich undichte Fässer mit übelriechendem Bier türmten.
»Wir müssen auf eine Lieferung warten«, sagte sie.
»Was soll das heißen?«
»Wenn das nächste Mal ein Karren zur Münze fährt, schmuggeln wir uns mit hinein.«
»Was ist die Münze?«
»Du hast doch die Schmiede gesehen.«
»Ja.«
»Das ist die Münze. Früher wurden im Turm Münzen geprägt. Das hat mir wenigstens Foster erzählt. Doch da Kellen lieber mit einem Schwert herumfuchtelt, als Geld auszugeben, hat er alle Silberschmiede zu Waffenschmieden gemacht.«
»Aber sie benützen immer noch Silber.«
»Und Gold. Im Feenreich ist das Schwert umso tödlicher, je edler das Metall ist, aus dem es besteht. Mich wundert, dass du das vergessen hast.«
Karren rumpelten vorbei, die meisten gezogen von den riesigen Ungeheuern, manche sogar von zweien. Die Karren waren mit den verschiedensten Gegenständen beladen: Barren aus Silber und Gold, Stroh, Kohlköpfen und Flaschen und Fässern, die noch mehr stanken als die, hinter denen sie sich versteckten.
»Das ist ja wie eine Fabrik«, stellte Avi fest und rang nach Atem, als ein Goblin mit einer Schubkarre an ihnen vorbeieilte. Darin befanden sich Flaschen, aus denen dicker grüner Rauch quoll.
»Genau«, sagte Brucie. Ein leichter Schauder lief ihr durch die Flügel. »Nur dass Kellen hier Kriegsgüter herstellt. Da ist unsere Chance. Schau!«
Ein enormer Wagen, gezogen von zwei gehörnten Kolossen, quälte sich die Hauptstraße hinauf und blieb am Tor stehen. Zwei Wachmänner, die schwarze gefiederte Gewänder und hakenförmige Helme trugen, kontrollierten den Lederbeutel, den der Fahrer ihnen reichte, und winkten den Karren durch. Als er sich wieder in Bewegung setzte, huschten Avi und Brucie zwischen die Räder. Avi packte einen Befestigungsriemen, schwang sich daran hoch und hielt sich an der Unterseite des Wagens fest. Brucie klammerte sich wie eine Fledermaus an ihn.
Knirschend und schwankend brachte der Karren sie tiefer ins Schloss hinein.
Unterwegs bekam Avi nicht viel mehr zu sehen als sich drehende Räder und marschierende Füße. Die
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