Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Erinnerungsbuch zu Hilfe nahm oder nicht.
Levi hatte kurz die Zelle verlassen. Nun kehrte er, einen Gegenstand in der Hand, zurück.
»Mein Erinnerungsbuch«, stammelte Avi. Seine Zunge fühlte sich schwer und träge an.
»Das habe ich dem elenden Elf weggenommen«, verkündete Levi und drehte das Buch hin und her. Dann ging er durch die Zelle und baute sich, mit Blick auf Avi, vor Hannah auf. »Er dachte, er könnte sich damit bei meinem Vater einschmeicheln, aber der hat nicht viel für Bücher übrig, außer es geht darum, ein Feuer zu nähren. Also habe ich es mir genommen.«
Er blätterte das Buch durch, hielt hie und da inne und machte, je nach Inhalt, ein vergnügtes oder trauriges Gesicht. Bei der Hälfte angelangt, knallte er das Buch zu. Im nächsten Moment öffnete er es wieder auf der ersten Seite. »Ach, wie reizend, ein Wiegenlied als Widmung!« Beim Lesen verfinsterte sich seine Miene, und er runzelte verdattert die Stirn.
Dann riss er die Seite aus dem Buch.
Avi verschwamm alles vor Augen, und er spürte einen stechenden Schmerz hinter dem Ohr.
»Was machst du da?«, schrie Hannah, zerrte an ihrer Kette und schlug mit der freien Hand nach ihm. Als ihre Finger nur wenige Zentimeter von Levis Nacken durch die Luft sausten, wich er schreckensbleich zurück.
»Lass das«, sagte er und wirkte auf einmal sehr jung.
Er warf die herausgerissene Seite in die Luft. Sie trudelte langsam zu Boden und drehte sich dabei wie der Same eines Bergahorns. Noch bevor sie den Boden berührte, begannen die Wörter darauf zu verblassen.
Avis Gesichtsfeld hatte sich zu einem kleinen Punkt verengt, und er taumelte gegen die kalte Wand. Die Schmerzen legten sich, doch als er wieder richtig sehen konnte, stellte er fest, dass die weggeworfene Seite leer war. Man hatte ihm etwas gestohlen, und er wusste nicht, was.
Levi schwenkte triumphierend das Buch.
»Ich komme zu jeder Mahlzeit wieder«, verkündete er. »Also dreimal täglich. Ich werde das Buch mitbringen, und bei jedem Besuch lösche ich ein ganzes Kapitel deiner Vergangenheit aus.«
Er verließ die Zelle und schloss die Tür hinter sich ab. Dann musterte er Hannah und Avi mit einem tückischen Ausdruck durch die Gitterstäbe.
»Du hast mir meine Kindheit geraubt, Avi. Und jetzt raube ich dir deine.«
Kapitel 24
A vi ist im Globe Theatre. Einige Schauspieler sind auf der Bühne. Einer trägt einen Nerzumhang mit einem Kragen aus schwarzen Federn. Eine Frau ist in Hermelin gehüllt. Grüne Schärpen sind um ihre Handgelenke und Knöchel, ihre Taille und ihren Hals geschlungen. Beide haben Kronen auf dem Kopf.
Die übrigen Schauspieler stellen Schreiber dar. Während der König und die Königin ihren Text sprechen, schreiben sie hektisch jedes Wort mit. Seitlich der Bühne sitzt ein glatzköpfiger kleiner Mann mit einem ordentlich gestutzten Bart und hört aufmerksam zu. Hin und wieder hasten die Schreiber zu ihm hinüber und reichen ihm die frisch beschrifteten Seiten. Er nickt lächelnd, und das Stück geht weiter.
Avi lauscht gebannt, doch der König und die Königin sprechen eine fremde Sprache, so dass er sie nicht versteht. Er sitzt auf der oberen Empore, blickt auf die Bühne hinunter und fühlt sich wie ein Vogel in seinem Nest.
Außerdem ist er von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelt und kann sich nicht bewegen. Sein Arm steckt zusätzlich in einem Gips. Als er etwas sagen will, stellt er fest, dass sein Mund zugeklebt ist.
Das Stück dauert an. Dass der König und die Königin Streit haben, ist offensichtlich. Avi fragt sich, warum sie sich wohl streiten. Nach einer Weile zücken beide Schauspieler Schwerter und fangen an, sich zu duellieren. Die Schwerter wirken echt.
Auf der Bühne gibt es eine Falltür. Jemand steckt von unten den Kopf heraus und knallt den Deckel der Falltür auf die Bühne. Es ist der Kundschafter, der Avi damals in der Welt der Sterblichen das Leben gerettet hat. Er ruft etwas, aber Avi kann ihn nicht hören.
Wieder versucht Avi, sich zu bewegen, aber der Gipsverband umklammert seinen Arm. Sosehr er auch zerrt, der Gips rührt sich nicht. Das Duell setzt sich fort, das Poltern verstummt nicht …
Als Avi aus seinem Traum erwachte, schien der Boden zu schwanken. Er hatte eine dünne Schweißschicht auf der Stirn. Sein Arm schmerzte vom Ziehen an der Kette. Irgendwo in der Zelle polterte etwas.
Er setzte sich auf und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß ab.
In einer Ecke der Zelle war der Haufen leerer
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