Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
die andere schob, um seine Barriere zu errichten. Er hörte das leise Splittern von Glas und fragte sich, ob die Versicherung wohl den Schaden bezahlte, wenn ein Angehöriger des Älteren Geschlechts auf der Golden Gate Brücke mit Wagen um sich warf.
Der schlanke Japaner saß im Schneidersitz da. Seine beiden Schwerter lagen vor ihm auf dem Boden. Er faltete die Hände im Schoß, schloss die Augen und atmete die kalte Nachtluft tief durch die Nase ein. Dann zählte er bis fünf, bevor er mit den Lippen ein O formte und die Luft wieder ausstieß. In dem wirbelnden Nebel vor seinem Gesicht entstand ein winziges Loch.
Niten liebte diesen Moment, auch wenn er es nie zugegeben hätte. Er freute sich nicht auf das, was bevorstand, doch dieser kurze Moment, wenn alle Vorbereitungen für den Kampf getroffen waren und nichts mehr zu tun blieb als zu warten, wenn die Welt still wurde, als hielte sie den Atem an, war etwas ganz Besonderes. In diesem Moment, in dem er dem Tod ins Angesicht blickte, fühlte er sich durch und durch lebendig.
Man hatte ihn noch Miyamoto Musashi genannt und er war ein Teenager gewesen, als er die reine Schönheit dieses stillen Moments vor einem Kampf entdeckt hatte. Jeder Atemzug schmeckte plötzlich wie das beste Essen, jedes Geräusch war klar und erhaben und selbst auf den schlimmsten Schlachtfeldern wurde sein Blick von etwas Schlichtem und Elegantem angezogen: von einer Blume, einem ungewöhnlich geformten Ast, einer geschwungenen Wolke.
Vor hundert Jahren hatte Aoife ihm zum Geburtstag ein Buch geschenkt. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass sie sich im Datum um einen Monat vertan hatte, aber das Buch hatte er immer noch und hielt es in Ehren. Es war eine Erstausgabe von Der Professor von Charlotte Brontё und eine Zeile daraus würde er nie vergessen: Mitten im Leben sind wir im Tod . Jahre später hatte er Gandhi gehört, der dieselben Worte benutzt, sie nur umgestellt und damit etwas ausgesagt hatte, das tief in seinem Inneren nachhallte: Mitten im Tod siegt das Leben.
Die Liebe für den Kampf war Niten längst abhanden gekommen.
Der Krieg hatte nichts Ehrenhaftes, das Töten noch weniger und erst recht nicht das Sterben. Aber darin, wie Menschen sich im Kampf verhielten, lag echte Würde. Und es war immer ehrenhaft, sich für eine gerechte Sache einzusetzen und die Schutzlosen zu schützen.
Niten formte mit den Händen im Schoß eine Halbkugel und sammelte darin ein wenig von seiner Aura. Die kleine Pfütze in leuchtendem Königsblau kräuselte sich in seinen dunklen Handflächen. Jahrhundertelang führte er nun schon ein Schwert und entsprechend schwielig war seine Haut. Er blies über die Flüssigkeit und sie wurde zäh. Niten rollte sie wie Teig zwischen den Handflächen zu einer blauen Kugel und drückte sie dann flach. Das unregelmäßige Rechteck, das entstand, sah aus, als sei es aus festem, blauem Papier. Ungemein sorgfältig bog er die Ecken um, falzte und faltete das Papier zu einer kleinen Origami- Kame , einer Schildkröte.
Er legte die blaue Schildkröte vor sich auf die Brücke, nahm seine Schwerter auf und verschwand in dem Moment im Nebel, in dem der erste Sparte daraus auftauchte.
» Minikui «, flüsterte Niten. »Hässlich.«
Der Unsterbliche kämpfte nicht zum ersten Mal gegen Ungeheuer und hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man keines nach seinem Aussehen beurteilen durfte. Die Vorstellung von Schönheit war von Land zu Land und selbst von Generation zu Generation eine andere, doch er bezweifelte, dass irgendjemand einen Sparten jemals hübsch finden konnte. Nicht einmal ein anderer Sparte.
Dieser hier war klein und gedrungen, nur etwas über einen Meter fünfzig groß, und sah aus wie ein Krokodil auf zwei Beinen. Seine Haut war wulstig und mit Schuppen bedeckt, der Schädel flach und keilförmig. Die großen, bronze- und goldfarbenen Augen mit den Schlitzpupillen saßen oben am Kopf. Sie standen weit auseinander und ihr Blick durchdrang die Dunkelheit. Als der Sparte den Mund öffnete, sah man zwei Reihen spitzer Zähne und eine dicke, weiße Zunge, die sich nicht bewegte.
Niten hatte schon öfter Schlangenwesen gesehen. Sie tauchten in den Legenden fast jedes Landes auf dieser Erde auf und viele der nahe gelegenen Schattenreiche waren von Echsenwesen bevölkert. In aller Regel hassten die Echsen die Säugetiere und die Säugetiere fürchteten die Echsen.
Die Kreatur vor ihm war barhäuptig und trug einen knielangen Poncho,
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