Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
diese Tafel genau am heutigen Tag. Nur wenige Stunden, nachdem ich sie aus der Hand gegeben habe, hältst du sie in deiner. Als ich anfing, deiner Zeitlinie zu folgen, hätte ich nie gedacht, dass sie dich wieder zurückführt und wir uns am Ende beide auf demselben Kontinent und im selben Zeitstrang befinden.
Du bist eine bemerkenswerte Frau, Virginia Dare.
Du hast überlebt, als alle um dich herum starben. Und du hast nicht nur überlebt. Es ging dir gut. Du hast allein und wild mitten im Wald gelebt. Doch du warst nie ganz allein. Hast du dich nie gefragt, warum die Wölfe dich nie gejagt haben und die Bären dir aus dem Weg gingen? Warum du keiner Krankheit erlegen bist und weder verdorbenes Essen noch brackiges Wasser dir geschadet haben? Auch im tiefsten Winter, wenn hoher Schnee lag, bist du nie krank geworden. Du musstest nie hungern, hattest immer genug zu essen. Nie hast du dir etwas gebrochen oder auch nur einen Zahn ausgeschlagen. Als Seuchen die Eingeborenen dahinrafften, kamst du davon. Als deine Feinde dich suchten, bist du im Wald untergetaucht. Als Fallensteller dich um der Belohnung willen jagten, starben sie einen plötzlichen und geheimnisvollen Tod.
Du warst wahrhaftig ein Glückskind.
Und während ich über dich gewacht habe, hat Marethyu, der Mann mit der Hakenhand, dich beschützt. Er war dein Schatten, dein Schutzengel. Gemeinsam haben wir dafür gesorgt, dass es dir gut ging, denn wir wussten, eines Tages würden wir dich brauchen.
Und heute brauchen wir dich, Virginia Dare – du wolltest immer, dass man dich braucht.
Als Kind ausgesetzt zu werden und elternlos aufzuwachsen, jahrelang dir selbst überlassen im Wald zu leben, das alles hätte dich eigentlich selbstsüchtig machen müssen, gierig und vielleicht sogar leicht verrückt.
Doch du bist nichts von all dem.
Das beweist deinen Mut, deine Willensstärke, deine Redlichkeit.
Wenn du mehr zu essen hattest, als du brauchtest, hast du es mit den Eingeborenen geteilt. Selbst wenn du gerade genug zum Leben hattest, hast du Päckchen mit Essen für sie an die Bäume gehängt. Du hast dafür gesorgt, dass ihre Netze und Fallen immer gefüllt waren. Du hast auf eine Art für sie gesorgt, wie nie jemand für dich gesorgt hat. Die Eingeborenen wussten es und verehrten dich dafür.
Du hast dir von einem Älteren, den du hasstest, die Unsterblichkeit verleihen lassen, nur damit du mehr Zeit hattest, den Bedürftigen zu helfen. Und jahrhundertelang hast du deinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn nun schon hinter einer gleichgültigen Fassade verborgen. Die wenigen, die dich kennen, halten dich für in hohem Maße egoistisch. Selbst der englische Magier, der dich besser zu kennen glaubt als alle anderen, weiß nichts über dich. Er kennt die echte Virginia Dare nicht.
Ich kenne dich.
Ich weiß, dass du autoritäre Arroganz immer abgelehnt hast. Du bist immer vorgetreten und hast für die gesprochen, die selbst keine Stimme hatten. Und jetzt bist du in einem Land, in dem eine ganze Klasse ohne Stimme ist, in dem eine Handvoll Älterer sich an der Macht festhalten und – was noch schlimmer ist – auch nicht die Absicht haben, sie je loszulassen. Dabei hat der Wandel einige von ihnen schon so verändert, dass sie kaum noch wiederzuerkennen sind. Sie wollen die Humani vernichten oder versklaven. Sie sind entschlossen, der Welt, die du kennst, der Welt, in der du aufgewachsen bist, ein Ende zu bereiten. Das Volk von Danu Talis braucht eine Stimme, Virginia Dare. Die Menschen brauchen jemanden, der für sie spricht.
Sie brauchen dich.
Virginias Tränen verdampften zischend auf der grünen Tafel.
Als eine Gestalt in weißer Robe die Gasse betrat, blinzelte sie ihre Tränen rasch fort. Kein Mensch hatte sie je weinen sehen. Sie steckte die Tafel unter ihren Kaftan. Der Edelstein lag kühl auf ihrer Haut.
»Ich habe auch einen bekommen«, sagte Marethyu leise. »Abraham hat sie denen hinterlassen, die er geliebt oder respektiert hat. Dee bekam keine«, fügte er mit Lachfältchen um die Augen hinzu.
Hinter den ungeweinten Tränen wirkten Virginias Augen noch einmal so groß. »Ich kenne diesen Abraham nicht.«
»Er kennt dich.«
»Er sagte, auch du hättest im Wald über mich gewacht.«
»Das habe ich.«
»Warum?«
»Damit dir nichts passiert. Abraham hat dafür gesorgt, dass du keine Schwierigkeiten bekamst, dass du genug zu essen und etwas anzuziehen hattest. Ich … nun ja, ich habe dich beschützt.«
»Warum?«
»Du hast mir
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