Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Öffentlichkeit. Und doch spürte ich das erste Mal im Leben körperlich, was Macht bedeutet. Hier war Macht nicht anonym. Ich konnte Sie nicht nur aus den Worten heraushören, sondern förmlich riechen und in jeder kleinen Geste sehen. Ich musste meine Aussagen gegenüber meiner Frau, ich hätte das laufende Jahr schon einmal durchlebt, korrigieren. Dies hier hatte ich ganz sicher nicht erlebt. Also gab es keine wirkliche Wiederholung, damit aber auch keine exakte Voraussage des Zukünftigen. Diesen Gesichtspunkt musste ich mir merken und zu Hause angelangt, zu Ende denken und aufschreiben. Als ob er meinen Gedanken erraten hatte, meinte er fast beiläufig: „Wissen Sie, Frank, was wirklich Macht bedeutet?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort. „Macht bedeutet zu bestimmen, was geschehen wird und aus allem, was geschieht, seinen Nutzen zu ziehen. Es existiert kein Weg, den sie nicht gehen können und wenn es in irgendeine Richtung noch keinen geben sollte, dann legen sie einen neuen an, wenn ein vorhandener versperrt ist, dann sprengen sie ihn frei.“ Mit einem Interesse, das alles andere als geheuchelt war, fragte ich: „Was meinen Sie denn, was diese Krise weltpolitisch für ein Weg sein wird? Eine Sprengung oder ein neues Bauwerk?“
Er freute sich, endlich einen kompetenten Gesprächspartner und aufmerksamen Zuhörer gefunden zu haben.
„Beides natürlich. Wir werden viel sprengen und viel bauen müssen. Aber am Ende werden wir stärker sein als zuvor. Das ist wirkliche Macht: Mehrung oder Steigerung von Macht.“
„Kommt mir bekannt vor.“
„Selbstverständlich. Sie wissen natürlich, von wem ich spreche. Sonst wären Sie meine Zeit nicht wert.“
Ich erwiderte: „Er sagt aber auch, dass die Liebe zur Macht der Dämon des Menschen sei.“
„Dieses Nietzsche-Zitat kannte ich noch gar nicht. Der Dämon des Menschen? Nicht schlecht. Aber ist nicht das gesamte Leben dämonisch? Lassen wir den Dämon los.“ Er drehte sich im Bürostuhl einmal um die eigene Achse. „Wissen Sie, die letzten Kriege sind nicht so gut gelaufen, es ging nicht mehr um Macht, sondern um Moral. Und, was war der Dank? Nur Vorwürfe. Selbst von sogenannten Freunden und Verbündeten. Öl aus dem Irak. Lächerlich. Die Kosten des Krieges stehen in keinem Verhältnis zum Nutzen. Die Rohstoffpreise sind unaufhaltsam gestiegen. Und die Macht derer, die von unserer Moral profitiert haben. Die Russen, die Saudis und die Chinesen, die Inder und einige kleinere Trittbrettfahrer. Die Vereinigten Staaten sind zu einem Großschuldner geworden. Aber glauben Sie mir Frank, diesen Billionen-Krieg gewinnen wir. Weil keiner weiß, wer der Feind ist, keine Waffen zu sehen sind, kein angreifbarer Gegner. Wir werden den begonnenen und sehr erfolgreichen Schattenkrieg auf einem Gebiet austragen, auf dem wir uns bestens auskennen und wo es keinen sichtbaren Boden gibt, nur eine virtuelle Welt der Zahlen und Gelddruckmaschinen. Wir werden die Hauptregel festlegen, nämlich dass es keine Regeln mehr gibt. Das Finanzsystem wird kurz vor dem Kollaps stehen, vielleicht sogar in zehn oder zwanzig Jahren kollabieren. Die Hälfte aller Banken werden verschwinden. Wenn alles vorbei ist, werden unsere Schulden bei den Chinesen geschrumpft sein, die Saudis uns um Verzeihung für ihre Intrigen bitten und die Russen sich auf das konzentrieren, was sie am besten können: Wodka saufen und Militärparaden abhalten. Chaos und Instabilität werden wieder der Normalfall sein und der Ruf nach Regulierung und Ordnung wird viel, viel Geld einbringen und - Macht. Mehr Macht. Die Demokratie ist ohnehin ein Auslaufmodell. Wie immer werden die entscheidenden Leute nach der Krise noch reicher und mächtiger sein als zuvor. Die Investment-Banker werden weiter und besser verdienen. Die Aktienkurse erheblich steigen. Tausende Billionen Dollar werden kursieren, auf allen Märkten: dem Aktienmarkt, dem Devisenmarkt und nicht zuletzt dem außerbörsianischen Derivatenmarkt. Ein Glücksfall für die, die wirklich im Spiel der Macht mitspielen dürfen. Und es wird Abwechslung geben. Viel Abwechslung. Nein, ich honoriere Ihre Bemühungen, Sie sind Deutscher und lieben ihr Land, und Sie werden, das versichere ich Ihnen, wenn sich alles wieder beruhigt hat, nicht schlechter da stehen, als vor dem Crash. Im Gegenteil. Ihre Bedeutung in Europa wird wachsen, vielleicht lässt sich in wenigen Jahren auch das mit dem ständigen UNO-Sitz regeln. Aber Sie persönlich sollten
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