Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
kennen. Nicht der Umstand, dass deine Geschichte verrückt ist, beunruhigt mich, sondern die Tatsache, dass ich so verrückt bin, sie dir zu glauben. Allerdings mit Vorsicht und Skepsis. Ich will erst abwarten, was mit deinen Voraussagen geschieht, ob sie sich bewahrheiten werden. Wenn ja, dann wechsle ich die Sektion und gehe zu den Theologen.“
Als 1986 sein Sohn Arnold geboren wurde, gratulierte ich ihm als Erster. Er wehrte ab. „Danke, aber nicht, dass du mir jetzt erzählen willst, du hättest es ja vorausgesehen. Nachdem du deine Prognose abgegeben hast, habe ich mit meiner Frau gesprochen und festgestellt, dass sie mit meiner Familienplanung keineswegs einverstanden war und sich doch noch ein drittes Kind wünschte. Ich habe also nachgegeben. Wenn du so willst, handelte es sich um eine selbstvollziehende Prophezeiung, deine Voraussage hat meine Entscheidung und Handeln erst hervorgerufen.“
„Natürlich können Voraussagen unser Handeln beeinflussen oder sogar veranlassen. Aber ich versichere dir, du hättest deinen Sohn auch ohne unser Gespräch bekommen. Und woher kann ich wissen, dass deine Frau sich ein Mädchen gewünscht hat, dies hast du mir in unserer ersten gemeinsamen Zeit, aber nicht diesmal erzählt. Und selbst, wenn du mir in diesem Fall einen möglichen Einfluss unterstellen kannst, ich werde wohl kaum durch meine private Vorhersage eine Million DDR-Bürger zum Demonstrieren auf die Straße bringen. Und so viele werden am 04. November 1989 in Berlin auf dem Alexanderplatz und Umgebung sein, um demokratische Rechte einzufordern.“ Ich nannte ihm darüber hinaus noch ein Dutzend anderer Ereignisse und Daten des laufenden und der kommenden Jahre. Tommy wurde von Monat zu Monat und von Voraussage zu Voraussage mehr von meiner Behauptung überzeugt. Die Sektion wechselte er dennoch nicht. Stattdessen begann er, sich intensiv mit dem Phänomen der „Zeit“ zu beschäftigen. Ich wollte ihm Stephen Hawkins „Kurze Geschichte der Zeit“ empfehlen, aber mir fiel ein, dass dieses Buch erst im Jahr 1988 in den USA erscheinen würde und erst einige Jahre später in deutscher Übersetzung. Tommy las aber andere populärwissenschaftliche Abhandlungen zu diesem Thema und vertiefte sich bei den alten Philosophen vor allem in die Passagen, in denen die Zeitauffassung dieser Denker darlegt wurde. Er wollte sich am liebsten jeden Abend mit mir zu dieser Problematik unterhalten. Je mehr wir Bücher wälzten und diskutierten, je mehr spürten wir, dass wir auf einen Gegenstand gestoßen waren, der sich nicht genau beschreiben und nur ansatzweise verstehen ließ.
In der Physik lässt sich die Zeit nur über Verfahren zu ihrer Messung definieren. Es gab nicht einmal eine halbwegs überzeugende Definition, die naturwissenschaftlichen Bestimmungen konnten nur eine Richtung andeuten, die aber vielleicht sogar vom Wesen des Gemeinten wegführte. Wir einigten uns auf einige Allgemeinplätze, sodass die Zeit nichts Absolutes sei, sie nur in Zusammenhang mit dem „Raum“ erklärt werden könne und dass die bekannten physikalischen Gesetze keine Zeitreisen ausschließen würden.
Die einfache Definition von Einstein: „Zeit ist das, was man von den Uhren ablesen kann“, erschien uns simpel und einleuchtend, damit auch der Umstand erklärbar, dass der Zeitbegriff sich im Laufe der Menschheitsgeschichte stark veränderte und auch kulturell geprägt ist: Sonnenuhren erzeugten eine andere Vorstellung von Zeit als Atomuhren. Später las ich einen sehr schönen Aphorismus: Ohne Uhren gibt es im Grunde genommen keine Zeit, sondern nur Ewigkeit.
Dies kam vielleicht dem Wesen der Sache näher. Die uns beide am stärksten faszinierenden Beschreibungen des Zeitphänomens fanden wir beim Kirchenvater Augustinus. Seine theologisch fundierte Theorie der Zeit war zwar nicht gerade leicht verständlich, aber doch sehr tiefgründig, das Zweite hatte wahrscheinlich das Erstere zur Folge. Uns wurde zumindest klar, dass es um mehr als um Dauer von Vorgängen und die Reihenfolge von Ereignissen ging, sondern dass hier das Wesen unseres Seins unmittelbar berührt wurde. In dem Augenblick, wo wir nicht nur über Zeit, sondern über Ewigkeit sprachen, betraten wir eine Dimension, die alles naturwissenschaftlich Erklärbare hinter sich ließ, die Ewigkeit kann man nicht messen oder berechnen, sie sei, wie Augustinus es nannte, „die Daseinsform Gottes“.
Als ich 2008 las, dass Wissenschaftler mithilfe eines gigantischen
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