Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Teilchenbeschleunigers am Forschungszentrum Cern bei Genf den Ursprung und dem Wesen allen Seins mit Mitteln der messenden Wissenschaft auf die Spur kommen wollten, konnte ich angesichts von so viel Überheblichkeit oder Naivität oder beidem, nur den Kopf schütteln. Die Völker, die in einem frühen Stadium einer technischen Entwicklung leben und keine Wissenschaft und modernen Uhren kennen, so einige südamerikanische Indianervölker, afrikanische Stämme oder die australischen Ureinwohner haben einen völlig anderen, einen noch nicht verstellten Zugang zur „Zeit“. Die Aborigines leben in einer Traumzeit, Geschichte, streng aufeinanderfolgende Ereignisse und Ereignisketten existieren für diese Ureinwohner nicht, die Zeit ist zirkulär, es gibt ein zeitloses Durchdringen allen Lebens, das die Menschen und die Natur in all ihren Dimensionen umschließt. Damit verbunden ist ein soziales Leben, in dem nichts erreicht werden muss, weil alles schon da ist. Alles, was war und ist und sein wird, ist gewissermaßen gleichzeitig. Mit dem Begriff „Karriere“ können die Aborigines absolut nichts anfangen. Das Lebensgefühl, das dieser Zeitvorstellung entspricht, ist - die Gelassenheit. Ein Lebensgefühl, das dem Abendland abhandengekommen ist. In den 90er Jahren sollte gerade dieser Aspekt des Zeitproblems, das subjektive Zeitempfinden und seine Folgen für mich in den Vordergrund treten.
So wichtig mir die Diskussionen mit Tommy auch waren, so sehr ich ihn schätzte und froh war, endlich jemand gefunden zu haben, der mein Schicksal kannte, ich wollte weder meine noch seine Ehe auf dem Altar der Freundschaft und endloser Kammerdebatten opfern. Ich vereinbarte mit ihm, dass jeder für sich weitere Studien zum Zeitproblem betreiben würde und wir uns nur noch einmal im Monat zusammensetzen würden, um unsere neusten Erkenntnisse, Gedanken und Fragen auszutauschen. Wir wurden Experten der „Zeit“, aber dem Geheimnis meiner Sanduhr kam ich dennoch keinen Schritt näher, aber ich fühlte mich nicht mehr allein im Universum und das Forschen und gemeinsame Grübeln gab mir das Gefühl, dem Unbegreiflichen und Unsagbaren doch mit Vernunft und Sprache beikommen zu können.
18. Kapitel
Die kommenden Jahre nahm ich kaum noch an Versammlungen oder Sitzungen der Sektion und des Bereiches teil, mir war meine Zeit dafür einfach zu schade. Selten wurde ich auf mein Fehlen angesprochen, ich gab mir kaum noch Mühe, wirkliche Begründungen abzugeben. Meine eigenen Veranstaltungen führte ich jedoch ohne Ausnahme und mit wachsendem Eifer durch. Ich beschloss, vom Lehrplan abzuweichen. Ich hielt einen eigenen Vorlesungszyklus zu den Weltreligionen. Der Buddhismus und der Islam waren nur Randthemen im Fach „Atheismus“ gewesen, die christliche Religion durfte immerhin mit ihren zweitausend Jahren Geschichte eine Vorlesung von anderthalb Sunden beanspruchen. Ich widmete allein der Reformation, ihren Ursachen und Wirkungen, zwei Vorlesungen. Das Interesse der Studenten war erstaunlich groß und noch größer war mein Erstaunen, als ich über den Buddhismus sprach. Nicht nur die Anzahl der Zuhörer verblüfften mich, sondern das zum Teil profunde Detailwissen einiger Studenten. Sie mussten aus westlichen Gefilden Literatur bekommen haben, bei einem Studenten sah ich auf dem Schreibpult „Die Welt des Buddhismus“ liegen, eine Sammlung von Aufsätzen namhafter Buddhismusforscher. Das Werk war in deutscher Übersetzung 1984 in München erschienen. Ich hatte Mühe bei den Diskussionen inhaltlich mitzuhalten. Offenbar hatten viele Studenten schon längst die eingefahrenen Gleise oder vorgeschrieben Lehrpläne verlassen und sich ihre eigenen Forschungsfelder gesucht. Als ich über den Koran sprach, reichten die Plätze im kleinen Vorlesungshörsaal nicht aus. Fast alle Studenten und Nachwuchsstudenten aus dem arabischen Raum nahmen an dieser Veranstaltung teil. Ich dachte an die Worte und Einschätzung des Islam durch meinen Freund Ahmed. Zwar gab es religionskritische Studenten, die vehement gegen alle religiöse Weltanschauungen wetterten, aber Brechreiz bekamen, wenn man ihnen erzählte, dass die gerade verzehrte Suppe mit Schweinefleisch gekocht worden sei. Das religiöse Gefühl und die vermittelten Traditionen und Bräuche lagen tiefer als alle später erlernten kritischen atheistischen Argumente. Außerdem gab es eine Reihe von Studenten, deren Studienjahre in der DDR durch die wohlhabenden und streng gläubigen Eltern
Weitere Kostenlose Bücher