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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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in Erinnerung bleiben. Für mich war es das Jahr des Elfenbeinturms. Dieser Begriff hat im Laufe des Jahrhunderts eine immer stärker negative Bedeutung bekommen, obwohl es doch ursprünglich ein positiver biblischer Ausdruck war und in Verbindung mit Reinheit und Liebe stand. Aber Zeiten ändern sich und mit ihnen die Bedeutung der Begriffe. Ich bin mir nicht absolut sicher, in welchem Sinne ich diesen „Elfenbeinturm“ meine. Er steht für die Abgeschiedenheit und Losgelöstheit von Wissenschaftlern oder Künstlern von realen gesellschaftlichen Prozessen und Ereignissen. Wahrscheinlich erfasst diese Bedeutung mein Gefühl am besten. Die DDR ging unter, aber der Kongress tanzte weiter. Nicht nur die Regierenden des von den Sowjets errichteten Staates, sondern auch große Teile der Intelligenz und Hochschulelite feierten den 7. Oktober, den 40. Geburtstag der DDR, als ob es nur kleinere und durchaus lösbare soziale Probleme gäbe. Es wurde das Motto ausgegeben: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Es geht alles vorüber. Nur nicht auffallen und an die Front oder noch schlimmer - zwischen die Fronten geraten. Der 9. Oktober hätte zu einer schrecklichen, zu einer blutigen Katastrophe ausarten können. Leipzig befand sich in einer Art Belagerungszustand, überall waren Polizeieinheiten, Wasserwerfer, Panzerspähwagen in den Nebenstraßen des Zentrums stationiert und warteten nur auf den Befehl des gewaltsamen Vorgehens gegen die sechzigtausend demonstrierenden Staatsfeinde. Zum Zeitpunkt der entscheidenden Montagsdemonstration fand eine große Sektionsversammlung statt, um den 40. Jahrestag der DDR zu würdigen. Es gab einen kleinen Imbiss und anstelle des Sektionsdirektors, dem die Ereignisse auf den Magen geschlagen waren, er war auf Gastritis krankgeschrieben, hielt einer der Bereichsleiter die Festrede. Seine Worte waren konfus, skurril wäre treffender, erst glaubte ich, er hätte zu viel Alkohol im Blut, aber er war stocknüchtern, vielleicht spürte er aber das Ende des bisherigen privilegierten Lebens. Die Rede bestand aus einer Ansammlung von Zitaten und Wortfetzen. Der Schlussteil lautete: „Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht. Der Letzte löscht das Licht aus. Amen.“
    Alle schauten ratlos, schweigend, niemand applaudierte, stattdessen ging man sofort zu Speis und Trank über.
    Es fehlten außer dem kranken Sektionsdirektor nur eine Handvoll Studenten und zwei Assistenten, die sich wohl in die Schar der friedlich Demonstrierenden eingereiht hatten: der Künstler oder solcher, die sich dafür hielten, Elektriker, Schlosser, Kraftfahrer, Verkäufer, Ingenieure, wie 1953 der Bauarbeiter, und nicht zuletzt von Pfarrern und Gemeindemitgliedern, allen voran jene der Gemeinde der Nikolaikirche. Die intellektuelle Elite der Hochschulen der Stadt war dagegen nur spärlich vertreten. Ein einziges Mal regte sich eine Art spontaner und die Sektion als Ganzes ergreifender Protest. Dieser wurde ausgelöst durch einen Kommentar von Karl Eduard von Schnitzler. Dieser hat, natürlich ungewollt, seinen Beitrag zum Zusammenbruch des von ihm so verehrten kommunistischen Systems geleistet, jenes Systems, in dem er wie ein kleiner Fürst leben konnte und von den Mächtigen hofiert wurde. Er betrachtete sich als Chef einer Kläranlage für westliche Propagandalügen. Seine seit 1960 im DDR-Fernsehen montags ausgestrahlte „Aufklärungssendung“ Der Schwarze Kanal hatte negativen Kultstatus errungen, jeder kannte sie und keiner sah sie, mit Ausnahme von Funktionären und Parteikadern. Seine Argumente und Tiraden wurden von den anderen DDR-Medien und von den Agitatoren der Parteilehrjahre oft übernommen und so erreichte Schnitzler zwar nicht viele Fernsehzuschauer, aber dennoch einen großen Teil der DDR-Bevölkerung. Seine Kalte-Krieger-Posen überraschten niemanden, aber mit seinen abfälligen Bemerkungen über die vielen Tausend DDR-Bürger, die die DDR über Ungarn in Richtung Westen verließen, brachte er das Fass zum Überlaufen. Sein an ein Wort Honeckers anknüpfender Satz: „Denen weinen wir keine Träne nach“, war am Dienstag nach seiner Sendung Gesprächsthema Nummer Eins an der Sektion und der Universität. Selbst sonst zurückhaltende Professoren und Dozenten konnten ihren Unmut nicht verbergen. Der Tenor lautete: „Das ist unmarxistisch. Wir müssen, bevor wir subjektive Schuldzuweisungen treffen, nach objektiven Ursachen dieser Flüchtlingswelle suchen und diese offen benennen.“ Es wurde nichts

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