Die geheimnisvollen Pergamente
Augen offen halten. Ich muss auf dem Laufenden bleiben, meine Zuträger sind überall. Wenn ich es will, werden viele aufrechte Gläubige für mich streiten.«
»Willst du es denn?«
»Das wird Allah entscheiden, wenn es so weit ist.« Abu Lahab leerte die Schale und unterdrückte ein Gähnen. »Aber ich bleibe wachsam.«
»Bei aller Wachsamkeit – ich wünsche dir einen tiefen und langen Nachtschlaf, ohne Alb träume.«
Abu Lahab nickte müde. »Abdullah bewacht meinen Schlaf. Ich danke dir, Nadschib.«
Nachdem Joshua abgeholt und am nächsten Morgen von seinem hünenhaften Beschützer zurückgebracht worden war, verließen weder Henri noch Joshua zwei Tage lang das Haus. Uthman begleitete Mara zum Markt und betete in der Moschee. Henri hatte beiden eingeschärft, auf Verfolger zu achten und besonders Ausschau zu halten nach diesem jungen, glutäugigen Araber, den Henri inzwischen als seinen Helfer beim Überfall bezeichnete. Und er glaubte sogar, dass er es war, der ihm den Turban zurückgebracht hatte. Was das aber alles bedeuten mochte, wusste auch Joshua nicht zu sagen.
»Ich gehöre einem Volk an, das vielen Anfeindungen und Qualen ausgesetzt war. Vor 65 Jahren bin ich geboren worden. Ich habe Verfolgungen und Pogrome überlebt, viele schreckliche Jahre. Daran hat sich manches, aber insgesamt wenig geändert. Wir Juden dürfen heute ungehindert zum Grab des Hohepriesters Simon pilgern und dort beten.« Henri wusste, dass im Bezirk Scheich Jarrahs das Grab des Hohepriesters zu finden war. Erst seit kurzer Zeit war den Juden der Besuch dort erlaubt. Aber Joshua, bei aller Freude darüber, traute dem Frieden nicht. »Vielleicht sind die Christen in Gefahr. Aber ich habe nichts davon gehört, weder hier im Viertel noch in der Synagoge.«
»Wenn wir uns wehren müssten«, warf Henri ein und legte die Hand auf sein Amulett, »würden wir wohl bald unterliegen. Wir sind drei alte Männer, Joshua.«
»Wir wären vier Männer, und vermutlich wären wir stärker, wenn Sean endlich bei uns wäre und uns helfen könnte.«
»Wegen Sean kann ich nicht schlafen«, bekannte Henri. »Weder Uthman noch ich können diesen geheimnisvollen jungen Mann verfolgen. Wir sind einfach zu alt, Joshua!«
»Du hast abermals recht. Aber uns sind die Hände gebunden.«
Sie sahen einander sorgenvoll in die Augen.
Am Nachmittag, noch bevor Mara mit Wein und frischem Kräutersud die Stufen heraufkam, stützte sich Uthman mit beiden Händen schwer auf Joshuas Tisch und sagte: »Rechts in unserer Gasse habe ich den jungen Araber gesehen, kurz nach Mittag. Am linken Ende ist Mara an ihm vorbeigegangen, ohne dass er sie bemerkt hat.«
»Wir werden also noch immer beobachtet«, stellte Henri fest. »Ich habe es nicht anders erwartet.«
»Obwohl du deinen Turban nicht noch einmal verloren hast«, sagte Joshua lächelnd. »Das ist eine ziemlich sonderbare Situation. Wenn der Junge dir geholfen hat, Henri, tat er etwas Gutes. Aber weil er uns beobachtet, fühlen wir uns bedroht.«
Die drei waren sich einig, dass die Ruhe in diesem Haus bedroht war. Sie sehnten Seans Anwesenheit herbei und hofften, dass ihm nichts geschehen war. Henri versank für einige Stunden wieder tief im Sumpf seiner Verzweiflung und dachte an nichts anderes als daran, dass die mühsam erlangte Ruhe vorbei war. Uthman, der durch den Basar, über die Märkte und durch die Gassen gegangen war, hatte keine Unruhe oder gar Vorbereitungen zum Aufruhr erkennen können. Trotzdem entschloss sich Henri, in seiner Wachsamkeit nicht nachzulassen und seine Waffen bereitzuhalten.
Am frühen Abend hatte sich die Gasse vor dem Haus ebenso gefüllt wie alle anderen Plätze und Gassen des Jüdischen Viertels. Kleine, von Eseln gezogene Karren ratterten entlang der Häuser. Die Geräusche waren die zu dieser späten Tagesstunde üblichen; keine aufgeregten Schreie, kein lauter Wortwechsel, kaum Gelächter oder Eselslaute. Das plötzliche Poltern, mit dem ein Wurfgeschoss auf den Kacheln des Daches aufschlug und weiterrollte, schreckte alle auf.
Mara sprang zur Seite. Der Stein rollte bis zum Tisch und blieb neben Henris Fuß liegen. Henri bückte sich und sah sofort, dass es wieder ein Stein war, den der Werfer in Pergament eingewickelt und mit einem dünnen Lederstreifen festgeknotet hatte.
»Uthman!«, rief Henri. »Ein neues Geschoss! Eine neue Botschaft unseres nächtlichen Steinewerfers.«
»Dieses Mal am hellen Tag.« Uthman wartete nicht darauf, dass Henri die
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