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Die geheimnisvollen Pergamente

Die geheimnisvollen Pergamente

Titel: Die geheimnisvollen Pergamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Lederschnüre abstreifte und das Pergament auseinander faltete. Er lief die Treppe hinunter und kam, als das eng beschriebene Blatt auf dem Tisch lag, mit dem Handspiegel zurück. Henris und Joshuas Blicke schienen sich ins Pergament bohren zu wollen.
    »Einige Worte sind zwar in Arabisch geschrieben«, stellte der alte Gelehrte fest, »aber nicht in Spiegelschrift. Hier lese ich Tawra. So nennen die Muslime unsere Thora. Die Ziffern sind klar: 1. Buch Mose, also Mosche, 16. Kapitel und 11. Vers. Du bist bibelfest, Henri! Weißt du’s?«
    »Nicht ganz genau. Das erste Buch Mose hat etwas mit Abraham zu tun.«
    »Mit Ibrahim. So nennen wir ihn«, warf Uthman ein.
    »Dann lies vor, welche Botschaft der Schreiber uns nun zugedacht hat«, forderte ihn Henri auf.
    Weiter sprach der Engel zu Hagar, Sarais Magd:
    ›Siehe, du bist schwanger von Ibrahim geworden und wirst einen Sohn gebären, des Namen sollst du ihn Ismael heißen, darum, dass Allah, der Herr, dein Elend erhört hat.‹
    Henri hob den Kopf und sagte ratlos: »Das verstehe ich nicht.«
    »Ibrahim ist der Begründer des Islam«, klärte ihn Uthman auf. »Er gab den Glauben an Ismael weiter.«
    Joshua nickte sinnierend und murmelte nach einer Weile: »Unsere Thora sagt also, dass der Islam die wahre Religion sei. Die Auslegung ist verständlicherweise anders, aber so steht es geschrieben.«
    »Also will der Schreiber uns sagen, dass auch die Juden ihre Religion aus dem Islam ableiten.« Uthman zeigte auf Joshua, der melancholisch nickte. »Abermals ein Versuch, zwischen uns Unfrieden zu stiften.«
    »Der zweite Versuch«, sagte Henri. »Juden gegen Muslime. Die Thora gegen den Koran. Aber auch heute werden wir uns deswegen nicht in die Haare kriegen!«
    Wie Teile eines rätselhaften Bildes lagen der Stein, die Schnur, das Pergament und der Spiegel in der Mitte des Tisches. Ratlosigkeit stand in den Gesichtern der Männer. Im Westen der Stadt, über den unbewaldeten Hügeln, loderten die glühenden Wolkenbänke eines beginnenden Sonnenuntergangs auf. In der Kühle des Abends lagen große Schatten über der Stadt und über dem Dach des Hauses.
    Henri blinzelte in die riesige tiefrote Sonne und sagte: »Ich ahne, dass uns gefährliche Stunden bevorstehen, Freunde. Meine ganze Hoffnung richtet sich auf Sean of Ardchatten.«
    »Er wird kommen, wenn wir ihn am dringendsten brauchen. Inshallah!«, murmelte Uthman.
    Joshua las schweigend in einem seiner gelehrten Bücher.

8
    In einer fremden Stadt
     
    Aus den Reden der Hirten, die kleine Schafherden zur Stadt trieben, den Rufen der Karawanenführer und den Flüchen der schläfrigen Wachen hatte Sean herausgehört, dass das Nördliche Tor einstmals Stephanstor genannt worden war, und die Kirche jenseits der Mauern hatte vor vielen Jahren Heilige Maria Latina geheißen. Er ritt, ebenso erschöpft wie sein Rappe, langsam durch das Menschengewimmel und stieg unter dem Torbogen ab. Er wusste nur, dass Henri bei Joshua im Jüdischen Viertel lebte, im Haus von Uthmans Vater. Wie hieß »Jüdisches Viertel« auf Arabisch? Oder: »Wo finde ich das Haus von Umar ibn al-Mustansir?« Er erinnerte sich schließlich an die richtigen Worte.
    Sean schlang den Zügel seines Pferdes um den linken Unterarm und ließ sich in der Menge der Besucher mittreiben. Niemand hielt ihn auf. Sein Pferd und er waren vom Kopf bis zu den Füßen von Staub bedeckt. Jerusalem schien, zumindest in diesem Teil der Stadt, aus ansteigenden und schrägen, meist schmalen Gassen zu bestehen, in denen schon jetzt ein arges Gedränge herrschte. Sean wandte sich an einen Mann in mittleren Jahren, der ein enorm großes Heubündel auf den Schultern transportierte.
    »Bei Allahs Gnade«, sagte er. »Wo geht es zum Jüdischen Viertel?«
    Mit dem linken Arm gestikulierte der Heuträger und sprudelte, schweißüberströmt und zahnlos, eine Menge Worte hervor. Sean verstand nur wenig, erfuhr aber immerhin, dass er nach drei Quergassen der breiten Straße folgen musste.
    Sean bedankte und verbeugte sich, dann führte er das Pferd weiter. Niemand schien ihn zu beachten; er blieb einer von vielen Besuchern Jerusalems an diesem Tag. Es ging wieder aufwärts. Nach drei engen querenden Gassen kam er über mehrere Stufen tatsächlich zwischen abweisenden Mauern auf eine breite Straße und wandte sich nach links.
    In der Mitte der Straße, in der staubbedeckte Palmen und Nussbäume wuchsen, sah er einen Brunnen. Ein schwarz gekleideter Mann bewegte den Hebebaum und

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