Die geheimnisvollen Pergamente
liefen die Schwarzgekleideten durch die Gasse und zur Straße. Wenn die Wolken den Mond freigaben, glänzten Blutstropfen auf dem Pflaster. Schwitzend und stöhnend rannten die Männer weiter. Abdullah war der letzte von ihnen.
Von vorn hörte er die Frage: »Wohin bringen wir sie?«
Ohne zu überlegen, antwortete Abdullah: »Zum Haus von Abu Lahab. Wir vergraben sie vor der Gartenmauer.«
Auf dem Weg, der sie durch zahlreiche Gassen und um viele Ecken bis ins leidlich freie Gelände führte, begegneten sie niemandem. Es war nicht ausgeschlossen, dass jemand aus dem Dunkel heraus den seltsamen Zug beobachtete, aber auch sie waren durch die Nacht geschützt. Die Männer hörten nicht auf zu rennen, bis sie die weiße Mauer erreicht hatten. Dort setzten sie die Leitern ab und fingen mit bloßen Händen zu graben an. Sie hoben Steine auf und verhüllten die Gesichter der Toten mit deren Kopftüchern. Schließlich häuften sie Erde, Geröll und Steinbrocken auf die schmalen Gräber.
Abdullah schickte die Männer fort und ging langsam zum Tor der Umfassungsmauer. Dort rüttelte er den Wächter an der Schulter und sagte: »Bring mich zu Abu Lahab, unserem Herrn.«
Der Alte erkannte ihn und sagte mürrisch: »Der Effendi schläft. Sein Zorn trifft jeden, der ihn weckt.«
»Sag ihm, Allahs Zorn hat mich, seinen obersten Wächter Abdullah, und ihn selbst schon getroffen. Er wird aufstehen, glaub es mir. Ich warte im Garten.«
Der Greis schloss die Tür auf und ging vor Abdullah über den knirschenden weißen Kies zum Haus. Abdullah setzte sich im Garten auf die steinerne Umfassung des Brunnens und wartete, bis Abu Lahab erschien. Er trug eine hoch flackernde Öllampe, und der Ausdruck seines bleichen Gesichts zeugte von Wut und Ärger über die Störung.
Suleiman erinnerte sich immer wieder an den ersten Blick, der ihn aus Mariams grünen Augen getroffen hatte. Vier Jahre lag das nun schon zurück. Auf dem Fischmarkt, nahe der syrischen Wechselstube, hatte er sie zum ersten Mal gesehen: die einzige junge Frau, die nicht verschleiert gewesen war und deren langes, hellbraunes Haar in der Sonne geglänzt hatte. Trotz seiner Jugend hatte er es gewagt, sie anzusprechen, und sie hatte in flüssigem Arabisch geantwortet.
Alles an Mariàm war schön. Ihr ebenmäßiges Gesicht, die seidige Glätte ihres hüftlangen Haars, die schlanken Handgelenke und die schmalen Finger, an denen wenige einfache, aber kostbare Ringe glänzten; Geschenke ihres Vaters, der sie vergötterte und – noch – nichts von Suleiman wusste. Ihre Mutter war am Fieber gestorben, ihr Vater, ein Pergament-und Papierhändler, und Eirene, ihre Erzieherin, bildeten sie aus.
Das Haus seines Vaters und Mariams Haus in der Mitte von Al Quds lagen weit auseinander. Wenn Suleiman zu ihrem Treffpunkt lief, freute er sich auf jeden Atemzug an Mariams Seite. Wenn er sie verließ, bedauerte er es zwar, aber die Vorfreude auf das nächste Treffen erfüllte ihn mit Aufregung und der Vorstellung, wie es sein würde, wenn sie immer zusammen sein würden – bis in alle Ewigkeit.
Nur drei Dinge störten seinen Traum vom großen Glück: sein Vater, ihr Vater und der Umstand, dass er Muslim und sie Christin war. Mariam und er störten sich zwar nicht daran, aber ihnen war klar, dass diese Tatsache ihr gemeinsames Leben immer beeinflussen würde.
Suleiman lief durch die nächtlichen Gassen nach Hause. Manchmal, wenn er sich völlig unbeobachtet fühlte, tänzelte er durch die Nacht. Wieder einmal hatten sie lange über alles geredet. Er hatte ihre Hand gehalten, und Mariam hatte seine Finger gestreichelt. Der Duft ihrer Haut und ihres Haars war noch an seinen Fingern.
Gestern war sie nicht zum Treffpunkt gekommen, und er hatte sie stundenlang gesucht. Aber sie war nur mit ihrem Vater zu einer Karawanserei geritten, die weit vor der Stadtmauer gelegen war.
Henri und Sean werden es verstehen, dachte er bei sich, während er an einem Brunnen stehen blieb und sein heißes Gesicht kühlte. Sie haben selbst Freundinnen und Geliebte, oder hatten sie zumindest.
Suleiman schüttelte das überschüssige Wasser von seinen Händen und ging ein wenig langsamer weiter. Noch einige Gassen und ein kleiner Platz, dann war er zu Hause. Als er am oberen Ende einer Treppe anhielt, hörte er Schritte, keuchende Atemzüge und ein schleifendes Geräusch, ganz so, als würde Holz an Steinen entlangschrammen. Er hielt die Hände hinter die Ohren und hörte, dass die Geräusche von rechts
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