Die Geisel
Abend ein. Ich brauche nur grünes Licht von dir, und wir streichen das Norton-Stück. Wir können den Aufmacher und die Abmoderation hier mit dir drehen und nach L.A. mailen. Die kümmern sich dann um den Rest.«
Melanie lehnte sich zurück. »Das ist ziemlich heftig«, wandte sie ein. »So was Drastisches haben wir noch nie gemacht.«
Marty hob die Arme und streifte mit der DVD-Hülle die niedrige Decke.
»Auf zu neuen Ufern«, tönte er.
Als sie sich immer noch nicht überzeugt zeigte, fuhr er fort. »Diese Gerichtsshows finden doch heutzutage ständig nur im Leichenschauhaus statt, zur besten Sendezeit … Die zeigen doch jeden Abend verbrannte Leichen und so was.«
Melanie zuckte die Achseln. »Das ist doch alles nur gestellt«, sagte sie. »Latex und Farbe.«
»Wo ist der Unterschied?«, wollte er wissen.
Sie dachte darüber nach, ihm den Unterschied zu erklären, verwarf die Idee jedoch sofort wieder. Marty war schon so lange in Hollywood, dass er, wie so viele andere in dem Geschäft, das wirkliche Leben und das Leben im Film längst nicht mehr auseinanderhalten konnte. Es kam nicht darauf an, ob etwas wahr war oder nicht. Es kam darauf an, ob es auf dem Bildschirm gut aussah und ob es für Publikum sorgte. Ein Glück, dass es keine Quoten für unser Privatleben gibt, dachte sie.
Sie schnippte mit dem Finger in Richtung des Fernsehers. »Das war echt, Marty. Man konnte es spüren. Es hatte etwas …« Sie suchte nach dem passenden Wort. »… etwas Voyeuristisches, sich das anzusehen.« Sie sah auf. »Wie bei einem Snuff-Streifen.«
»Wenn wir die nächsten sechsunddreißig Stunden die Trailer dafür raushauen, dann kriegen wir einen Anteil, wie wir ihn in den letzten drei oder vier Jahren nicht hatten. Wir können das nicht in der Schublade liegen lassen. Es bedeutet für uns alle viel zu viel.«
»Was ist mit der internen Quelle? Du hast mehr oder weniger deutlich gesagt, die Behörden würden bald draufkommen, von wem das Ding stammt.«
»Hereinspaziert, Ihr Glück probiert!«, antwortete Marty ohne die Spur eines Lächelns. »Komm schon, Baby.« Er meinte es jetzt wirklich ernst. »Wir müssen das durchziehen. Jetzt oder nie.«
Sie ließ eine lange Minute verstreichen, bevor sie die Finger vor der Brust faltete und ihm eine Antwort gab.
11
Der Lärm attackierte die Ohren wie ein Schwarm wütender Hornissen … Von oben, von unten … Fünfzig Radiosender, die einen Schwall aus Jazz, Honky-Tonk, Speed-Metal, Hardrock und Rap ausspuckten … Schreie und Grunzen und Stöhnen, Reden und Näseln und Krächzen erfüllten die Luft; die Betonmauern mischten Bebop mit Hiphop und warfen den Ton dann wieder nach drinnen zurück, wo die Gangbrüder und die Gelackmeierten die Füße hochlegten und entspannten.
Sie hielten sich am Rand der Laufgänge des Zellenblocks und versuchten, sich nicht in das herrschende Chaos hineinziehen zu lassen. Driver und Kehoe hatten Corso in die Mitte genommen, während sie zwischen den zerbrochenen Möbeln und brennenden Matratzen hindurchschlüpften, die auf dem Boden herumlagen. Die Luft war beißend und ölig. Es roch nach Urin und Pall Mall. Hier und da lungerten versprengte Gefangenengrüppchen herum. Manche waren bewaffnet, andere nicht. Die meisten an der Fensterfront, von wo sie auf die hell erleuchtete Umgebung und das Haupttor blicken konnten. Auf einem Treppenabsatz lagen, wild übereinandergetürmt, drei Leichen mit durchgeschnittenen Kehlen, die Körper mit einer dicken Schicht aus getrocknetem Blut überzogen.
Sie hatten schon den halben Block C hinter sich gebracht, als plötzlich eine haarige Hand aus der Dunkelheit einer offen stehenden Zelle herausfuhr, Corso am Kragen packte und ihn rückwärts in die Dunkelheit zerrte. Wer immer es war, er stank nach muffiger Wolldecke und nassem Schaf, als er sich mit seinem ganzen Gewicht auf Corso warf, um ihn zu Boden zu reißen. Corso musste seine ganze Kraft aufwenden, um sich nicht auf den Rücken drehen zu lassen. Er wehrte sich mit aller Macht. Der Mann stöhnte ein Mal auf und verstärkte seinen Griff, bevor Corso die Stimme hörte. Kehoes. Er brüllte.
»Hey. Hey. Was zum Teufel glaubst du, was du da machst? Lass ihn los, verdammt noch mal. Hörst du, du Arschloch? Lass los …«
Corso fühlte, wie sein Angreifer mit der freien Hand nach Kehoe ausholte … Einen Augenblick später spürte er, wie ein tiefer Schauer ihn durchlief, bevor er urplötzlich in sich zusammenschrumpfte, als sei sein Angreifer
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