Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geisel

Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G. M. Ford
Vom Netzwerk:
Fernseher, den er die meiste Zeit anschaute. Verdrehte die Augen nach hinten und haute irgendwohin ab, wo das auch sein mochte. Alles, was er machte, war dasitzen und mit seinen Gewehren spielen. Er nahm sie auseinander und setzte sie wieder zusammen, immer wieder und wieder. Musste nicht mal hingucken. Konnte das aus dem Gedächtnis und nach dem Gefühl. Gruselig.
    Sie hatte sich alle Mühe gegeben, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Hatte ihre vollgepinkelte Unterwäsche und ihre Hose im Waschbecken ausgewaschen und die Sachen dann zum Trocknen über die Heizung gehängt. Die vergangenen vier Stunden hatte sie damit zugebracht, in einem Handtuch im Motelzimmer auf und ab zu paradieren, das kaum größer war als ein Waschlappen, doch er hatte nicht mal mit einem Augapfel in ihre Richtung geschielt. Der erste Mann, der ihr je begegnet war, der nicht im Mindesten daran interessiert war, sie nackt zu sehen. Wenn er nicht so durchgeknallt gewesen wäre, hätte das bestimmt ihre Gefühle verletzt.
    Sie überlegte gerade, ob sie das Handtuch ganz fallen lassen oder umschalten oder eher beides tun sollte, als das Programm von selbst zu einer offiziellen Bekanntmachung wechselte. Eine blonde Frau stand hinter einem von diesen hölzernen Teilen, von denen aus man Reden hielt. Ein halbes Dutzend Männer in Anzügen stand hinter ihr auf dem Podium. Die Bildunterschrift lautete: FBI SPECIAL AGENT LINDA WESTERMAN.
    Sie laberte gerade was davon, wie die verschiedenen Cops überall so gut zusammenarbeiteten, wie eine große, glückliche Familie, als Bilder von ihnen unten am Bildschirm erschienen. Harry und sie, Kehoe und der Captainman, direkt da vor ihr, lebensgroß auf der Mattscheibe. Sie fand ihr Bild scheußlich. Sah aus, als hätte sie keine Oberlippe. Sein Bild sah ihm auch nicht besonders ähnlich, doch mit ein bisschen Fantasie konnte man ihn erkennen. Laut der Unterschrift hieß er Timothy Driver. War früher mal so eine Art U-Boot-Kapitän gewesen. Er hätte zweimal lebenslänglich dafür gekriegt, dass er vor neun Jahren seine Frau und ihren Lover umgelegt hätte. Er wäre bewaffnet und gefährlich. Beinahe hätte sie laut herausgelacht. Bewaffnet und gefährlich? Scheiße … Wenn die wüssten!
    Driver legte das Gewehr aufs Bett, tastete um sich, fand die Fernbedienung und stellte den Fernseher lauter. Diese Westerman sagte, sie vermuteten, dass die Flüchtigen – so nannten die sie, die Flüchtigen –, dass die Flüchtigen nach Kanada wollten, weil Kanada niemanden in die USA zurückschickte, der exekutiert werden sollte. Alle sollten die Augen aufhalten und die Nummer anrufen, die unten auf dem Bildschirm eingeblendet wurde, wenn sie irgendwas zu berichten hatten. Und das war's. Sie stakste vom Podium herunter, und da war wieder dieser grinsende Trottel, der Schweinebraten in dieselbe idiotische Maschine stopfte.
    »Wenn's dunkel wird, verschwinde ich«, sagte er.
    Seine Worte fühlten sich an, als zöge jemand einen rostigen Nagel an ihrer Wirbelsäule entlang. »Sie meinen, wir verschwinden … oder?«
    »Ich muss allein gehen. Es ist meine Berufung.«
    »Oh bitte«, sagte sie schnell. »Lassen Sie mich nicht allein. Ich kann nicht gut allein sein. Ich hab Probleme.«
    »Wir werden allein geboren. Wir sterben allein«, sagte er feierlich.
    »Aber doch nicht hier – nicht jetzt«, wandte sie ein. »Stimmt's?«
    Als er nicht antwortete, rückte sie näher an ihn heran und ließ den oberen Rand des Handtuchs in ihren Schoß fallen. Zum ersten Mal riss er seinen Blick von ihrem Gesicht los und schaute auf ihre Brüste. Sie sah, wie sein Adamsapfel hoch- und runterhüpfte, verkniff sich ein Lächeln. »Meine Mama hat uns verlassen, als ich fünf war. Sie hieß Rose, und sie war wunderschön. Die Schule hat mich deswegen zur Therapie geschickt. Alle haben gesagt, es war nicht meine Schuld gewesen. Es war was zwischen ihr und meinem Daddy gewesen. Ich hätte nichts dagegen machen können.« Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich stimmt das auch«, sagte sie. »Für irgendjemand irgendwo anders jedenfalls.« Sie schwieg und sah ihm zum ersten Mal in die Augen. Seine Augen schimmerten schwarz und wie ein Paar Stahlnieten. »Aber für mich … Ich denk immer, es muss irgendwas gewesen sein, was ich gemacht hab … oder was ich hätte machen müssen, und dass vielleicht, wenn nur irgendwas ein kleines bisschen anders gewesen wär, wenn wir vielleicht irgendwas gefunden hätten, um ihr Leben ein bisschen schöner zu

Weitere Kostenlose Bücher