Die Geisel
eigentlich?«, wollte sie wissen. »Ist das irgendwas Esoterisches, das man erst nach dreißig Jahren beim FBI lernt?«
Er lachte und tat die Vorstellung mit einer Handbewegung ab. »Ich wusste es überhaupt nicht«, erklärte er. »Es war ein Schuss ins Blaue, manchmal klappt's, manchmal nicht.« Er hob die Hände. »Besser Glück haben als keins.«
»Und was jetzt?«
»Wir warten.«
»Wie aufregend.«
Sie begann, in kleinen Kreisen auf dem Teppich herumzumarschieren.
»Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«, erkundigte er sich.
Sie sagte nein und marschierte weiter.
Als sie wieder an ihm vorüberkam, fasste er sie am Ellbogen. »Kommen Sie«, sagte er. »Geben wir ein bisschen vom Geld des FBI aus.«
Sie blieb stehen und schaute ihm fest in die Augen. Dann öffnete sie den Mund, schloss ihn wieder und schien ein kurzes Streitgespräch mit sich selbst zu führen, bevor sie wieder etwas sagte.
»Agent Rosen«, setzte sie an.
»Ron«, verbesserte er sie.
»Das mag jetzt unklug oder sogar unhöflich sein, aber es wird uns im Weg stehen, solange es nicht ausgesprochen wird.«
»Was meinen Sie mit ›im Weg stehen‹?«
»Die ganze letzte Woche … seit wir in diesem Meza-Azul-Fall unterwegs sind – hatte ich das Gefühl …« Sie zögerte. Sah ihm wieder in die Augen. »Ich hatte das Gefühl, dass Sie mich anmachen.« Sie wollte ihre Wanderung schon wieder aufnehmen, beherrschte sich jedoch. »Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht verstehe ich da was falsch. Wenn das der Fall ist, dann entschuldige ich mich.« Sie warf die Hände hoch. »Aber ich kann einfach nicht weitermachen, solange wir nicht darüber gesprochen haben.«
Er bohrte die Hände tief in seine Hosentaschen. Sie sah, wie er die Stirn runzelte und über seine Antwort nachdachte.
Kurz darauf sagte er: »Ich würde Ihnen ja gern sagen, dass das Ganze eine Erfindung Ihrer mädchenhaften Fantasie ist, Agent Westerman«, setzte er an. »Ich würde Ihnen das gern sagen …«, er machte eine Pause, um das Folgende zu unterstreichen, »aber es wäre nicht ehrlich.« Er fing ihren Blick auf. »Ich nehme an, ich habe Sie wirklich angebaggert, auf irgendeine kindische Art und Weise«, setzte er hinzu. »Ich wollte Ihnen zu verstehen geben, dass ich nicht erwartet habe, dass sich daraus irgendwas ergeben könnte. Wir wissen beide, dass das unmöglich ist.«
Sie nickte.
Er zog die Hände wieder aus den Taschen. »Ich weiß, es hört sich idiotisch an, aber vielleicht wollte ich einfach nur wissen, ob ich noch attraktiv bin. Ob ich noch die Aufmerksamkeit einer jungen Frau wie Sie erregen kann. Ich hoffe, Sie verzeihen mir …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… eventuelle Taktlosigkeiten …«
»Es gab keine Taktlosigkeiten«, versicherte sie ihm.
»Ich rede mir gerne ein, dass meine Scheidung spurlos an mir vorübergegangen ist.« Er zog eine Grimasse. »Sieht aus, als müsste ich diesen Punkt noch mal neu überdenken.«
Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch er kam ihr zuvor: »Ich könnte es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie mich bei meinem Vorgesetzten melden. Mein Verhalten war …«
Dieses Mal fiel sie ihm ins Wort: »Wofür denn? Sie waren die ganze Zeit professionell und höflich. Es gibt nichts zu melden. Ich wollte einfach nur nicht, dass dieser Verdacht zwischen uns gerät, weder privat noch beruflich.«
Wieder machte er eine nachdenkliche Pause.
»Danke«, sagte er schließlich und studierte dabei eingehend den Fußboden.
»Gilt die Einladung zum Mittagessen noch?«
Er schaute auf. Lächelte. »Na klar.«
»Machen Sie mal die Innenbeleuchtung an, o.k.?«
Melanie Harris suchte erst auf dem Armaturenbrett, dann an der Lenksäule, ohne den richtigen Schalter zu finden. Die Straße vor ihnen war dunkel, zwei schmale Spuren in jeder Richtung, gesäumt von Tannen und Kiefern, deren stämmige alpine Äste von den heftigen Bergwinden kahl gefegt worden waren. Die Straßenränder waren mit langen Stangen mit orangefarbenen Spitzen markiert, die die Begrenzung der Fahrbahn anzeigen sollten, wenn alles im Umkreis von vielen Kilometern unter einer zwei Meter dicken Schneedecke begraben war.
»Ich schaue lieber, wohin wir fahren«, erklärte Melanie. »Sonst landen wir am Ende noch im Straßengraben.« Sie konzentrierte sich aufs Fahren, beide Hände fest am Lenkrad, gab alles.
Corso legte die Karte in den Schoß und begann, über seinem Kopf zu suchen. Er brauchte eine halbe Minute, um den winzigen Schieberegler für
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