Die Geisel
zusammen.
»Er hat 'ne Menge Platz überm Kopf, und man kommt super durch den Schnee.«
»Wie groß bist du?«
»Zwei Meter vier. Und Sie?«
»Eins achtundneunzig«, antwortete Corso.
»Die Welt ist nicht für Leute gemacht, die so groß sind wie wir«, beschwerte sich der Junge.
»Nein, wirklich nicht«, stimmte Corso ihm zu. »Hast du eine Karte von der Gegend?«
Der Junge kramte unter dem Tresen herum und tauchte mit einer Karte wieder auf. »Einer unserer Künstler hier aus der Gegend hat sie für die Touristen gemalt. Sie zeigt vor allem Wanderwege und Picknickplätze.«
Corso nahm sie ihm aus der Hand. »Mit dem Benzin macht das dann siebenundfünfzig sechsundfünfzig«, sagte der Junge. »Gehört das Wohnmobil Ihnen?«
»Nein, einer Freundin.«
»Fahren Sie unterwegs an allem vorbei, nur nicht an einer Tankstelle.«
Corso reichte ihm seine Kreditkarte. Der Junge zog sie durch, wartete einen Augenblick und gab sie dann zurück. »Danke für die Karte«, verabschiedete Corso sich. Der Junge meinte, das sei nicht der Rede wert.
Der Himmel über ihnen war tiefblau, fast schon schwarz, die eintönige Dichte nur hier und da von der Andeutung eines Sterns unterbrochen.
Die Wälder, wie es so schön heißt, waren ›dunkel und tief‹.
Sie träumte von Fahrstühlen. Von der Sorte mit einem Fahrstuhlführer. Diese altmodischen, messingverzierten Käfige eines längst vergangenen Zeitalters. Sie sah, wie auf der bronzenen Anzeige der Pfeil nach oben zeigte, dann fühlte sie das Gewicht des Haltens, kurz bevor sie dieses liebliche Ping hörte, das ihre Ankunft in irgendeiner neuen Wunderwelt ankündigte. Ping, ping, ping.
Sie setzte sich im Bett auf und hatte den Bruchteil einer Sekunde lang eine Ahnung, warum sie ausgerechnet diesen Ton als Klingelton für ihr Handy ausgesucht hatte. Doch die Erleuchtung währte nur kurz.
Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Sechs Uhr dreiundvierzig. Nach dem Mittagessen hatte sie sich hingelegt, um sich noch mal kurz auszuruhen, bevor sie wieder gerufen wurde. Das schwache Licht, das durch die Vorhänge drang, verriet ihr, dass sie den ganzen Nachmittag verschlafen hatte. Sie griff nach dem Telefon.
»Westerman«, meldete sie sich.
»Wir haben sie verloren«, sagte die Stimme.
Ihr Körper versteifte sich. Sie fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. »Wie konnten Sie sie verlieren? Sie hatten doch den Sender am …«
»Die Berge sind riesig. Sie sind ständig im Weg.«
»Wo sind Sie jetzt?«
»In einem Ort namens Sierra Summit.«
»Fahren Sie zurück.«
»Bitte?«
»Wie heißt der nächste Ort auf dem Rückweg?«
Sie konnte das Rascheln der Karte hören, als sie nachschauten.
»Winthrop«, sagte er.
»Wie weit?«
»Dreißig Kilometer.«
»Fahren Sie bis dahin zurück. Wenn Sie sie unterwegs nicht finden, bleiben Sie da. Wenn Sie sie finden, rufen Sie mich unter dieser Nummer an.«
Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern beendete die Verbindung und griff nach dem Festnetztelefon. Der Empfang meldete sich. »Verbinden Sie mich bitte mit Ronald Rosen«, sagte Westerman.
36
»Da«, sagte Corso und faltete die Karte zusammen. »Da drüben, das ist die Zufahrt.« Er zeigte auf einen nicht näher gekennzeichneten Fahrweg, der in einer Diagonale westwärts von der Straße abging.
Melanie ließ das Wohnmobil die ersten fünfzig Meter die Schotterstraße hinunterrollen und hielt dann an. Sie schaltete die Scheinwerfer aus und schwang ihren Sitz halb herum. »Sind wir so weit?«, fragte sie.
»Noch nicht ganz«, antwortete Marty. Er saß am Tisch und steckte das Kunststoffgestell zusammen, in dem der Kameramann die Kamera am Körper tragen konnte. »Bei solchen Überraschungsinterviews muss man hundertprozentig vorbereitet sein, wenn's losgeht. Wir haben hier keinen Spielraum für Korrekturen. Nichts als Wham-bam-thank-you-Ma'am.« Er zeigte zu Melanie hoch. »Wenn du dir noch die Nase pudern willst oder so was, dann mach's jetzt.«
Melanie gehorchte, zog ein rot weiß gestreiftes Make-up-Täschchen aus dem Handschuhfach und klappte es in ihrem Schoß auf. »Ich sage euch, wie wir's machen«, erklärte Marty. »Wir müssen sie zuerst mal dazu bringen, aus dem Haus zu kommen. Wenn wir es auf ihrer Veranda probieren, braucht sie uns nur die Tür vor der Nase zuzuknallen und zu verschwinden.«
Melanie versicherte, sie habe verstanden.
»Das Geheimnis liegt darin, Geduld zu haben«, fuhr Marty fort. »Bleib einfach stehen, bis sie neugierig
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