Die Geisel von Zir
durchsichtiges kobaltblaues Gewand, ähnlich wie die Gewänder der Mädchen, dazu eine juwelenbesetzte Tiara auf dem schwarzgrünen Haar. Sie stand auf und verneigte sich.
»Ich bin Shosti, o Gottheit«, stellte sie sich vor. »Ist es richtig, dass Euer sterblicher Name Ries lautet?«
»So ungefähr jedenfalls«, antwortete Reith. »Doch nun, verehrte Dame, möchte ich Euch freundlich bitten, mir zu sagen, warum Ihr mich entführt habt und was es mit diesem Gerede über meine Göttlichkeit auf sich hat.«
»Das werdet Ihr zur gehörigen Zeit erfahren, mein Herr. Bitte nehmt Platz.«
Nun, da er die Hexe von Zir aus nächster Nähe betrachten konnte, kam Reith zu dem Schluss, dass sie ein gutes Stück älter als ihre Mägde war. Sie sah nach krishnanischem Standard recht gut aus, wenn auch nicht überragend. Das Alter einer Krishnanerin zu schätzen, war nicht leicht, da ihre platten, orientalisch wirkenden Gesichter kaum runzlig wurden.
Außerdem wichen die Lebensspannen der beiden Spezies beträchtlich voneinander ab. Die durchschnittliche Lebensspanne eines Krishnaners lag etwa zwischen der eines normalen, medizinisch nicht manipulierten Terraners und der eines Terraners, der regelmäßig Langlebigkeitspillen nahm. Reith und seine Touristen gehörten der letzteren Gruppe an.
»Steht Euch nicht der Sinn nach einer kräftigenden Mahlzeit, o Herr?« fragte Shosti.
»O doch, verehrte Dame. Doch wenn Ihr mir zuvor erklären könntet …«
»Bitte geduldet Euch noch ein wenig. Bring etwas Kvad, Beizi, und sag dem Koch, er soll das Abendmahl vorbereiten.«
Als der Kvad gebracht worden war, sagte sie: »Ich hörte, mein Herr, dass die Erdenmenschen, bevor sie den ersten Schluck nehmen, ihr Glas heben und zueinander sagen: ›Auf Euer Wohl!‹ Ist das wahr?«
»Ja, verehrte Dame. Fast alle unsere Sprachen haben einen entsprechenden Ausdruck dafür: a votre sante, a sua saúde und so weiter.«
»Dann, auf Euer Wohl, göttliche Hoheit!« Sie vollführte die Geste ein wenig linkisch.
Reith nahm einen kleinen Schluck. »Doch nun, gnädigste …«
»Geduld, ich komme gleich darauf. Kennt Ihr die Prophezeiungen Gámands, des Ungeschorenen?«
»Ich fürchte nein.«
»Gámand lebte gegen Ende des Kalwm-Reiches. Seine Prophezeiungen wurden von seinen Jüngern niedergeschrieben, doch während des Dunklen Zeitalters gingen viele der Aufzeichnungen verloren, und der Rest geriet durcheinander. Daher müssen wir sie jeweils im Lichte der Ereignisse deuten. Wenn etwas Seltsames geschieht, schauen wir in die Prophezeiungen Gámands und sagen: Seht, hier wird dieses Ereignis klar vorausgesagt! Doch aufgrund der altertümlichen Sprache und der Konfusion in der Reihenfolge der Texte konnten wir das Ereignis nicht rechtzeitig voraussehen, um ihm vorzubeugen.
Nun sagt die Prophezeiung Nummer einhundertdreiundvierzig, dass ein Gott in unirdischer Gestalt erscheinen wird, mit flammendem Haar. Er wird der Herrin des Turmes einen heroischen Halbgott zum Sohne schenken, welcher die Völker der Welt von ungerechten, tyrannischen Herrschern befreien und ein Zeitalter des Friedens, der Freude und des Wohlstandes einläuten wird.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Ihre Göttlichkeit belieben zu scherzen; denn gewiss hat Euer allwissender Geist längst erkannt, dass jener Gott mit dem Flammenschopf niemand anders denn Ihr selbst seid.«
»Wie bitte? Ich?«
»Ja, göttliche Durchlaucht. Und der tyrannische Herrscher ist kein anderer als der raffgierige Geizhals Tashian. Die Herrin des Turmes ist meine Wenigkeit; denn der Turm ist ganz klar der Felsengipfel von Senarze, auf welchem der Tempel der Endgültigen Wahrheit steht. Glaubt Ihr, dass alle diese Dinge nur zufällig mit der Prophezeiung übereinstimmen?«
Reith schluckte nervös. »Ihr meint, ich soll also mit Euch diesen Halbgott – eh – zeugen? Hier und jetzt?«
»Gewiss, mein göttlicher Herr – doch natürlich erst, nachdem wir uns an einem kräftigen Mahl ergötzt haben. Ihr werdet gewiss verstehen, dass wir diese Euch betreffende Prophezeiung in ihrer vollen Bedeutung und Tragweite erst begreifen konnten, als die Missionare der Endgültigen Wahrheit uns über jenen kosmischen Kampf aufklärten, welcher im Universum wütet, jenen furchtbaren Kampf zwischen den Göttern des Lichtes und jenen der Dunkelheit. Euer Haar nun weist Euch klar als einen der Götter des Lichts aus; denn auch wenn ein Gott die Gestalt eines Sterblichen annimmt, kann er nicht alle äußeren
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