Die Geisel
Geburtstage, an Spiele, die er gespielt, an Witze, über die er gelacht hatte, verblassten mit dem Vorüberziehen der Zeit. Das Nachdenken bereitete ihm Kopfschmerzen, also versuchte er, so viel wie möglich zu schlafen.
Der Hunger weckte ihn aus seiner Betäubung. Timmie setzte sich halb auf. Er hatte das meiste gegessen, das sich in dem Kasten befunden hatte. Nur ein halbes Roggenbrot, das neben ihm lag, war noch übrig. Jetzt bereute er es, alle Schokoladetäfelchen auf einmal gegessen zu haben. Aber er hatte ja nicht gewusst, wie lange die reichen mussten, hatte niemals daran gedacht, dass er wirklich verhungern könnte. So etwas passierte doch nur in Filmen oder den Kindern in Afrika. Aber nicht hier. Nicht ihm. Erst als er nur noch ein halbes Roggenbrot übrig hatte, begann er, sich die Mahlzeiten einzuteilen.
Das halbe Brot war inzwischen knochentrocken geworden. Er musste es feucht machen, dass es einigermaßen zu kauen war. Er nahm das Brot und kroch zum Wasserhahn. Das Wasser, das herauskam, war gelb und roch nach Schwefel. Er probierte es. Mit jedem Tag, der verging, wurde es bitterer. Er trank nur selten, weil er davon Magenkrämpfe und manchmal auch Durchfall bekam. Er hasste es, wenn er sich in die Hose machte. Dann kam er sich wie ein Baby vor.
Die Lampe an der Decke flackerte. Er schaute nervös zu ihr auf. In letzter Zeit war sie immer unruhiger geworden. Er hoffte, dass sie nicht ganz ausgehen würde. Der Gedanke an eine ständige Dunkelheit machte ihm Angst. Er hasste die Dunkelheit. Im Dunkeln geschahen schreckliche Dinge, daran konnte er sich erinnern.
Er hatte sich vorgenommen, nur ein paar Bissen zu essen, und weichte eine Ecke des Brotes auf. Nachdem es sich vollgesaugt hatte, kroch er zur Pritsche zurück. In diesem Moment ging die Lampe aus. Um ihn herum war es stockdunkel. Er rollte sich zusammen und nuckelte an dem Brot. Das Herz hämmerte schnell und hart in seiner Brust. Er lag da und lauschte seinem Atem. Er klang heiser und schnarrend, wie eine alte Dampflokomotive, die er mal in einem Film gesehen hatte.
Er wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte. Es hätten Minuten, aber auch Stunden sein können. Doch er spürte, dass seine Kleider schweißnass waren. Im Raum war es heißer und feuchter geworden. Mit der Dunkelheit war die Veränderung gekommen. Auch das Atmen fiel ihm jetzt schwerer. Er lauschte angespannt. Irgendwas fehlte - etwas, das er nicht mehr hörte. Dann fiel ihm ein, was es war. Dieses ständige Summen, das er vom ersten Tag an gehört hatte, war verschwunden. Er wusste nicht, woher es gekommen war. Nur, dass es nicht mehr da war. Konnte es etwas mit der Dunkelheit zu tun haben, mit der Hitze, die ihm den Schweiß ausbrechen ließ?
Ohne Vorwarnung kehrte das Licht zurück. Es blendete ihn und schmerzte in den Augen. Er hielt sich schützend die Hand davor, ehe er sich langsam wieder daran gewöhnt hatte. Das summende Geräusch war wieder da. Er streckte sich und horchte auf die Lampe an der Decke. Aber von dort kam das Geräusch nicht. Er begann, den Raum zu untersuchen. Es war wieder kühler geworden, so dass er besser atmen konnte. Er beugte sich über die Matratze und spürte die Brise, die aus einer Bodenritze kam. Von dort unten kam das Geräusch. Er dachte an den elektrischen Ventilator, der zu Hause in ihrem Wohnzimmer stand und neben dem seine Mama immer saß. Es musste etwas Ähnliches sein, nur ganz klein, das da unter der Ritze war und frische Luft zu ihm blies. Die Deckenlampe flackerte wieder. Er blickte angstvoll nach oben. Ohne Strom funktionierte der kleine Ventilator nicht. Wenn das Licht ausging, das verstand er jetzt, würde er bald ersticken, weil er keine Luft mehr bekam. Er konnte den Blick nicht mehr von der Lampe abwenden. Er hatte das Gefühl, dass sie sofort ausgehen würde, wenn er auch nur einmal woanders hinsah. Er musste sie im Auge behalten. Bloß nicht einschlafen, immer nur die Lampe anschauen …
40
Katrine schob Søren das Buch hin und beugte sich mit geballten Fäusten über ihn. Søren betrachtete sein Buch. Seine Arme waren mit einem Gurt so eng am Körper fixiert, dass er mit den Händen gerade die Tischplatte erreichte. Das Buch lag innerhalb seiner Reichweite, doch er rührte es nicht an.
Maja zog sich einen Stuhl an den Tisch und setzte sich. In dem kahlen Vernehmungsraum war es vollkommen still. »Höre auf die Sterne. War es nicht das, was Sie zu mir gesagt haben?«
Søren blickte schweigend zu Maja auf.
»War
Weitere Kostenlose Bücher