Die Geisel
fehlen.«
Katrine sah sich das Blatt noch einmal an. »Wie meinen Sie das genau?«
Er zeigte auf das Blatt. »Die Anzahl der Bilder, die ausgeschnitten sind, stimmt doch mit der Anzahl derer überein, die bei den getöteten Jungen gefunden wurden, korrekt?«
»Korrekt«, bestätigte Katrine widerwillig.
»Also kann er Timmie seines noch nicht gegeben haben. Und ich glaube nicht, dass er ihn vorher töten würde.«
Maja riss die Augen auf. »Sie meinen also, dass Timmie noch lebt?«
Larsen schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Ist er nicht schon ziemlich lange verschwunden?«
Die Lichter in der Bucht waren erloschen. Die Suche nach Timmie war eingestellt worden. Katrine wurde über ihr Handy informiert. Von dem Jungen fehlte jede Spur. Sie legte das Handy auf dem Dach ihres Mondeos ab. Maja warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast halb zwölf. Der Besuch bei Larsen hatte länger gedauert als erwartet. Sie nahm eine Flasche Wasser und die Pillendose aus ihrer Handtasche. Sie brauchte jetzt zwei Rohypnol und ein Benzodiazepin, um die Nacht zu überstehen. Sie schluckte die Pillen. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass auch Katrine zwei Pillen in ihre geöffnete Hand fallen ließ. Maja drehte sich überrascht zu ihr um, als Katrine sie sich in den Mund steckte. Sie reichte ihr die Wasserflasche, aber Katrine schüttelte abwehrend den Kopf.
»Was nimmst du da?«, fragte Maja.
»Nur etwas, um auf Touren zu bleiben. Willst du auch eine?«
Maja schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das harmoniert nicht so gut mit meinen schlechten Nerven.«
»Benzos?«, fragte Katrine und zeigte auf die Pillendose in Majas Handtasche.
Maja nickte. »Willst du eine?«
»Nein, danke. Meine schlechten Nerven sind das Einzige, das mich auf den Beinen hält.«
Mit der Fernbedienung schloss Maja den Mercedes auf. Es herrschte vollkommene Stille. »Wie merkwürdig der Gedanke ist, dass sich Timmie irgendwo da draußen befindet.«
Katrine nahm ihr Handy vom Dach. »Wie meinst du das?«
Maja zuckte die Schultern. »Dass der Ort unserer Kindheit sich verändert hat.«
»Sprichst du etwa von dieser Stadt?«, fragte Katrine und wies in eine unbestimmte Richtung. »Diese Stadt hat sich kein bisschen geändert. Sie war immer schon so verkommen wie jetzt. Man muss es nur wahrnehmen.«
Maja registrierte einen unterschwelligen Vorwurf, verkniff sich aber einen Kommentar. Katrine hatte Recht. Sie waren in derselben Stadt aufgewachsen, hatten aber in verschiedenen Welten gelebt. In einer hellen und einer dunklen. Bis jetzt.
»Wollen wir?«
»Ja«, antwortete Maja. »Wenn Larsen Recht damit hat, dass Søren zwei verschiedene Persönlichkeiten in sich trägt, den guten Pan und den bösen Hook, wäre es vielleicht sinnvoll, an seine gute Seite zu appellieren.«
Katrine runzelte die Stirn. »Ich komme nicht ganz mit.«
Maja trat einen Schritt näher an die heran. »Søren hat stets geleugnet, die Jungen angefasst zu haben …«
»Glaub mir, das hat er!«
»Ich weiß. Aber wenn ihn das so sehr quält, dass er sich ein Alter Ego geschaffen hat, das die Taten verübt hat, dann könnten wir das doch ausnutzen.«
»Du meinst, wir könnten Pan dazu bringen, uns zu sagen, wo Timmie ist?«
»Ja«, antwortete Maja. »Damit geben wir ihm die Möglichkeit, eine heroische Tat zu begehen. Sich so zu verhalten wie sein großes Vorbild.«
Katrine schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, dass sich in ihm irgendwas Gutes verbirgt?«
»Einen Versuch ist es wert.«
39
Timmie lag auf der Pritsche und knabberte an der Leine.
Das hatte er sich angewöhnt. Dennoch hatte er nicht das kleinste bisschen davon abbeißen können und die Hoffnung, sich befreien zu können, längst aufgegeben. Jetzt lutschte er darauf herum - der einzige Trost, der ihm der erdrückend enge weiße Raum bot.
Er hatte sein Zeitgefühl verloren. Wenn er nicht weinte, etwas aß oder die stinkende Toilette benutzte, döste er vor sich hin. Die vielen Tage seiner Gefangenschaft hatten ihn apathisch gemacht und jede Initiative erstickt. Er hatte sich mit seiner Situation abgefunden, und seine Panikanfälle wurden immer seltener.
Seine Gedanken teilten sich in die Zeit vor und nach dem weißen Raum auf. Aber er konnte sich nicht lange konzentrieren, und sein früheres Leben schien ihm so merkwürdig weit weg zu sein. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie seine Geschwister, seine Eltern und seine Mitschüler aussahen. Die schönen Erinnerungen an vergangene
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