Die Geisel
dalassen, ich mach das schon für dich.« Sie zeigte auf die Unterlagen, die er in der Hand hielt.
In diesem Moment spuckte die Maschine eine weitere Fotokopie aus.
»Ist schon okay, ich weiß inzwischen, wie das Ding funktioniert«, entgegnete Skouboe. Er warf einen Blick auf die Zeichnungen.
Sie wäre am liebsten sofort mit Buch und Kopien aus der Tür gestürzt, aber dazu war es zu spät. Jetzt musste sie notgedrungen abwarten, bis der gesamte Kopierauftrag erledigt war. Sie hob den Deckel des Kopierers und blätterte im Buch auf die nächste Seite.
Skouboe sah sie neugierig an. »Hast du angefangen zu malen?«, fragte er halb im Spaß.
»Nein, nein, das sind nur ein paar Zeichnungen … die ich kopieren will«, antwortete Maja mit rotem Kopf.
»Sieht spannend aus«, entgegnete Skouboe. »Kennt man den Künstler?«
Sie holte tief Luft und zeigte ihm das Buch. Er kniff die Augen zusammen und las den Titel. »Peter Pan …«, sagte er und betrachtete erneut die düsteren Zeichnungen. Er runzelte die Stirn. »Und da sind solche Bilder drin?«
»Eigentlich nicht …«, antwortete sie. Sie wollte Skouboe nicht anlügen und erzählte ihm auf die Schnelle, wie sie das Buch gemeinsam mit Katrine gefunden hatte. Skouboe lauschte mit offenem Mund.
»Ist das wirklich wahr?«
Maja nickte.
»Das Buch gehört ihm? Dem Mörder?«, fragte Skouboe, immer noch perplex.
»Ja.«
»Aber …Sollte es dann nicht der Polizei übergeben werden?«
»Doch, schon«, antwortete Maja. »Deshalb kopiere ich ja auch die Zeichnungen.« Sie lächelte verschmitzt.
»Was willst du damit anfangen?«
Sie blickte zu Boden. »Diese Zeichnungen sind vielleicht die einzige Spur, die zu Timmie führt.«
Skouboe schaute sie betrübt an. »Wie das?«
Sie erzählte ihm kurz von ihrem Besuch im Gefängnis und von dem, was Søren zu ihr gesagt hatte.
Skouboe nahm einen Bogen in die Hand und musterte die Zeichnung eingehend. »Und du hast ihm geglaubt?«
»Zu einem gewissen Grad, ja.«
»Und wie sieht das die Polizei?«
»Ich stehe da ziemlich allein.«
Skouboe nickte und gab ihr die Zeichnung zurück. »Ich habe irgendwo gelesen, dass sie damit rechnen, dass er die Leiche des Jungen in die Bucht geworfen hat. Wenn das wahr ist, dann kann sie von der Strömung bis nach Bornholm getrieben werden, vielleicht sogar bis nach Lettland.«
»Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit«, sagte sie ohne Überzeugung.
Skouboe legte ihr behutsam die Hand auf den Arm. »Vielleicht wäre es an der Zeit, sich von den Toten zu verabschieden, Maja.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie gereizt.
»Nimmst du immer noch etwas … gegen die Schmerzen?«
Sie spürte, dass er mit seinem Adlerblick die Größe ihrer Pupillen studierte, und wandte unwillkürlich den Kopf ab. »Nur in der Woche nach dem Begräbnis«, log sie.
Er lächelte sie väterlich an. »Nimm es mir bitte nicht übel, aber ich praktiziere seit fast vierzig Jahren und habe verschiedenste Arten der Trauer kennengelernt. Am schlimmsten ist es immer für die Eltern. Für Eltern, die ein Kind verloren haben.«
Sie entzog ihm ihren Arm und drehte sich zum Kopierer um.
Er zögerte einen Augenblick, während er sie betrachtete. »Manche, die völlig am Boden sind, kommen zu mir in die Praxis, damit ich ihnen etwas verschreibe, das sie die Tragödie vergessen lässt. Meistens ist es mir gelungen, ihnen das auszureden. Andere sind besonnener und wenden sich an einen Psychologen. Beide Patientengruppen kommen nie über den Verlust hinweg … doch sind sie in der Lage, ihre Trauer irgendwie zu bewältigen.«
»Schön für sie«, sagte Maja über ihre Schulter hinweg und drückte auf den grünen Knopf.
»Am schlimmsten ist es für die letzte Gruppe. Für diejenigen, die nicht in der Lage sind, ihre Trauer zu überwinden. Die auch nichts dafür tun. Früher oder später landen sie trotzdem bei mir in der Praxis. Über ihre Trauer reden sie nie. Stattdessen haben sie andere Symptome entwickelt und sind krank geworden. Sie haben Schmerzen oder Bluthochdruck, das Herz flimmert, sie fühlen sich gestresst, ausgelaugt, lebensmüde. Manche kommen auch mit Alkohol- oder Tablettensucht zu mir.«
»Warum erzählst du mir das alles?« Maja bückte sich und nahm die kopierten Seiten auf.
»Ihre Trauer hat sie von innen aufgefressen. Weil sie sich nicht davon lösen konnten.«
Sie drehte sich um und schaute ihn an. Er schien wirklich besorgt zu sein.
»Mir geht es gut«, sagte sie und tätschelte kurz
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