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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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befreien. Er wollte sie gerade rufen, als sich die Tür öffnete.
    Eine Gestalt erschien in der Türöffnung. Das schwache Licht im Gang ließ seine Silhouette hervortreten. Er war groß und breit. Die Muskeln seiner Oberarme wölbten sich, und sein kahl geschorener Kopf glänzte von Schweiß. Wie ein wütender Stier stieß er die Luft durch die Nasenlöcher aus. Søren spürte, wie der Fremde ihn betrachtete. Er wusste, dass der Mann nicht stehen blieb, weil er zögerte, sondern weil er diesen Moment der absoluten Kontrolle genoss. Ein solcher Augenblick war fast größer als die Tat. So voller Erwartung und Macht.
    Der Fremde kam in den Raum und trat an Sørens Pritsche. Er roch scharf nach Schweiß. Der Geruch erinnerte Søren an seine Kindheit. Mit seinem tätowierten Oberkörper und dem Ring im Ohr sah der Mann aus wie ein Pirat. War dieser unerwartete Besucher ein Teil seiner Strafe? So wie es oft geschehen war, als er noch ein Junge war. Er musste sich auf seine Glanzbildchen konzentrieren. Zur Decke emporblicken, wo sie versteckt waren. Wo er sie immer versteckt hatte. Das war ein Platz, der absolut sicher war. Ein Platz, zu dem man hinauffliegen konnte, um sich zu verstecken. Man durfte nur nicht mehr an seinen Körper denken. Musste sich leicht und frei fühlen. Dann war es gleichgültig, was geschah. Dann existierte die Wirklichkeit nicht mehr. Dann gab es keine harten Fäuste mehr, die einen schlugen. Und keine schmutzigen Nägel, die einem die Kleider vom Leib rissen und die Haut aufritzten wie Krallen. Der furchtbare Schmerz, wenn einem das Ding in den Mund gesteckt wurde. Und der ekelhafte Geschmack, wenn die klebrige Flüssigkeit in den Mund schoss. Man musste es nur überstehen. Es hat keine Bedeutung. Es war unwesentlich.
    Der Mann beugte sich über ihn. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Pupillen winzig klein, der Schweiß perlte auf seiner Oberlippe. Der Typ hatte irgendwas genommen. Aus seinem Gürtel zog er ein glänzendes Stück Stahl. Es war eine Gefängniswaffe. Ein Schraubenzieher mit einer geschliffenen, messerscharfen Spitze.
    »Nimm das hier!«, fauchte der Mann. Mit seinem ganzen Gewicht stieß er Søren den Schraubenzieher in den Bauch. Er verschwand bis zum Griff. Der Schmerz war unbeschreiblich. Wie glühende Kohlen, die unter der Haut brannten. Sein Schrei wurde von der Hand erstickt, die sich auf seinen Mund presste. Der Mann zog den Schraubenzieher heraus und stieß ein weiteres Mal zu. Søren versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Die Riemen schnitten in seine Handgelenke. Immer wieder stach der Mann auf ihn ein. Das Blut schoss dunkel und klebrig aus den offenen Wunden. Jedes Mal, wenn der Schraubenzieher in seinen Bauch gestoßen wurde, entstand ein schmatzendes Geräusch.
    Der Fremde richtete sich auf. Stand keuchend über ihm. Søren konnte den Schraubenzieher erkennen, der jetzt mitten in seiner Brust steckte wie ein sonderbares Gewächs. Ein pfeifendes Geräusch begleitete jeden seiner Atemzüge. Aus einem seiner Mundwinkel schäumte das Blut. Der Mann wischte sich die Hände an der Steppdecke ab, ehe er sich umdrehte und aus der Tür ging.
    Das Blut aus den vielen Stichwunden tropfte auf den Boden und sammelte sich an einem Bein der Pritsche zu einer Lache. Im schwachen Licht, das durch die geöffnete Tür fiel, sah es fast schwarz aus.
    Søren blinzelte. Er sah, wie sich Wendy in der Blutlache spiegelte. Sie ging neben ihm in die Hocke. Strich ihm sanft über die Stirn. Sagte, dass alles gut werden würde. So war sie, ihrer aller Mutter. Er wusste, dass sie den Weg zu Timmie finden würde, sobald sie den Code geknackt hatte. Dann würde sie Timmie vor Hook und all den Piraten retten. Søren dachte an seine Lieblingsstelle aus Peter Pan: »Ich bin die Jugend, ich bin die Freude, ich bin ein kleiner Vogel, der gerade aus dem Ei geschlüpft ist.«
     

42
    Stig schaute schlaftrunken über den Rand der Decke. Die Geräusche des Fernsehers hatten ihn geweckt. Am anderen Ende des Sofas saß Maja und starrte wie paralysiert auf den Bildschirm. Sie trug ein dünnes Sommerkleid, auf dem Schoß hatte sie ihre Arzttasche. Die Morgennachrichten zeigten Bilder vom Kopenhagener Polizeipräsidium.
    »Was ist denn los?«, fragte er.
    »Søren, Søren Rohde … Er wurde im Gefängnis ermordet«, antwortete sie, ohne den Blick abzuwenden.
    Stig setzte sich abrupt auf. »Wann ist das passiert?«
    »Irgendwann heute Nacht, haben sie gesagt.«
    »Wissen sie, wer es war?«
    »Sie haben

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