Die Geisel
entfernte sich von der Karte und setzte sich in den anderen Sessel gegenüber von Katrine. Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Was es auch war, das Søren ihnen hatte zeigen wollen, sie hatten es noch nicht verstanden. Dabei war sie so sicher gewesen, das Rätsel mit Hhilfe der Ermittlungsakten lösen zu können. Doch jetzt war sie mit ihrem Latein am Ende. »Und was ist mit dem gerichtspsychiatrischen Gutachten?«
»So weit sind wir noch nicht gekommen, aber das muss bei dem Stapel dabei sein, in dem sich auch die Zeugenaussagen befinden«, antwortete Katrine und zeigte zum Sofa hinüber.
Maja stand auf und ging den ersten Stapel durch. Das gerichtspsychiatrische Gutachten war nicht dabei. Dann kontrollierte sie rasch die anderen Stapel. »Ich kann es nicht finden.«
Katrine schaute zu ihr hinüber. »Seltsam. Ich bin sicher, dass es in einer der Kisten lag.«
»Kann es sein, dass Claus es immer noch hat?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Gutachten werden in der Regel mit den anderen Unterlagen zusammen archiviert. Aber vielleicht war er ja der Meinung, es wäre die Mühe nicht wert. Sie haben ja sowieso nicht viel aus Søren herausbekommen.«
»Trotzdem«, entgegnete Maja. Auch wenn das Profil recht dürr war, so wunderte es sie doch, dass Claus das Gutachten nicht abgeliefert hatte. Sie zog kurz in Erwägung, ihn anzurufen, verwarf diesen Gedanken aber, als sie sah, wie spät es war. Sie trat an die offene Terrassentür, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Auf der Rasenfläche glitzerte golden der Morgentau. Maja zog ihr Handy aus der Tasche und schrieb Claus eine SMS. Sie bat ihn, wegen Sørens Gutachten so schnell wie möglich zurückzurufen.
»Was ist mit seiner Kindheit?«, fragte Maja und drehte sich um.
Katrine schaute benommen auf. »Sørens?«
Maja nickte. »Die Patientenakte, die ich in unserem Archiv gefunden habe, ging nur bis zum Jahr 1996 zurück. Wisst ihr etwas über seinen familiären Hintergrund? Wo er aufgewachsen ist?«
Katrine gähnte. »Steht alles in den Unterlagen da vorne«, antwortete sie und zeigte auf den nächsten Stapel. »Geboren in Lemvig, Vater unbekannt, Mutter Alkoholikerin, Pflegefamilie auf Falster, verschiedene Kinderheime, bis er volljährig wurde. Wir sind überall gewesen, haben mit allen gesprochen.«
Maja ging zu ihrem Sessel zurück und nahm wieder Platz.
»Und?«
»Keine anderen Delikte, keine Hinweise auf weitere Opfer. Seine Verbrechen hat er ausschließlich hier begangen. Auch die Sache mit den Schwänen ist hier passiert. Wenn er Timmie irgendwo versteckt hat, dann auch garantiert irgendwo hier in der Gegend.«
Die Wirkung des Ephedrins hatte nachgelassen, Maja fielen die Augen zu. »Soll ich Kaffee machen?«, fragte sie.
»Warum nicht«, antwortete Katrine. Sie nahm sich die letzte Zigarette und knüllte die Schachtel zusammen.
Da Maja nicht genug Energie zum Aufstehen hatte, blieb sie sitzen. Mutlos starrte sie Sørens Zeichnung neben der Karte an. »Wie soll denn das Timmies Gedanken darstellen?«
Katrine drehte träge den Kopf. »Nein, selbst von der Seite ergibt das keinen Sinn. So war Søren eben, im Grunde ein unverstandener Künstler«, sagte sie und stieß eine große Qualmwolke aus.
Maja biss sich irritiert auf die Lippen. Katrines Zynismus war keine leichte Kost am frühen Morgen. »Was wissen wir von Timmie?« Sie stand auf und trat dicht an die Karte heran. Sie kannte das Viertel, in dem er wohnte. Es war eines der ärmlichsten der ganzen Stadt. Verglichen mit seinen baufälligen Baracken waren die Blocks des sozialen Wohnungsbaus reinste Paläste.
»Wir wissen, auf welchem Spielplatz er spielte und wo ihn Søren mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit abgefangen hat. Wir wissen, in welcher Kneipe Timmies Eltern zu diesem Zeitpunkt saßen und sich gestritten haben. Und wir wissen, dass Timmie in einem Umkreis von zwei Kilometern von dort nicht zu finden ist. Glaub mir, wir haben alles abgesucht.« Katrine breitete resigniert die Arme aus.
»Habt ihr irgendwelche Fotos von seinem Zuhause?«
Katrine schüttelte den Kopf. »Nein, aber ein paar vom Spielplatz.«
»Ich will lieber sehen, wo er wohnt. Vielleicht auch mit seinen Eltern reden.«
Katrine blinzelte. »Mit seinen Eltern? Die können nichts sagen, du hast doch selbst ihre Aussage gelesen.«
»Aber sie kennen ihren Sohn am besten, wissen, was er denkt, wovon er träumt. Vielleicht können sie uns irgendeinen Hinweis geben, der uns in die richtige Richtung
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