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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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Handtasche. Sie war immer noch in der Klarsichttüte. Es gab keinen Grund, sie herauszunehmen. Die Plastikhülle schien ihr wie eine Schutzschicht vor der Karte und ihrem Absender. Die beruhigenden Worte von Tom Schæfer hatten die nagende Angst nicht vertreiben können. Natürlich war es eine Art Jungenstreich. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich hinter der Karte mehr verbarg, etwas Abgestumpftes, Morbides, das sie nicht näher benennen konnte. Und das erschütterte sie zutiefst. Es hieß, dass der Absender sie womöglich kannte. Dass er wusste, dass sie früher einmal hier gewohnt hatte und nun zurückgekehrt war. Außerdem musste der Unbekannte ihren Wohnort herausgefunden und sich die Mühe gemacht haben, die Karte bei ihr persönlich einzuwerfen. Sie fragte sich, ob sie beobachtet wurde, und schauderte bei dem Gedanken.
    Aber warum hatte der Absender sie mit Wendy aus Peter Pan verglichen? Waren es nicht allesamt Kinder, die Peter Pan mit nach Nimmerland nahm? Und waren es nicht Kinder, die dieser Wahnsinnige ermordete? So furchtbar diese Gedanken auch waren, so schien sie selbst nicht in Gefahr zu sein.
    Sie kannte diese Geschichte aus ihrer Kindheit. Es war keine ihrer Lieblingsgeschichten gewesen, doch erinnerte sie sich in groben Zügen an ihre Handlung. Peter Pan war irgendwann durchs Fenster zu einer Horde von Geschwistern geflogen gekommen und hatte sie nach Nimmerland mitgenommen. Dort hatten sie gespielt und gegen Seeräuber und Indianer gekämpft, bis sie schließlich zu ihren Eltern zurückkehrten, die sie sehr vermisst hatten. Ende der Geschichte. Ein glückliches Ende. Ganz anders als das Ende der Opfer, die einem Mörder in die Hände gefallen waren. Sie würden niemals zurückkehren. Sie wurden in den Baum gehängt.
    In diesem Moment klopfte es an der Tür, und Skouboe trat ein. Er lächelte, aber seine Augen waren müde. Was sie immer waren, wenn er von seinem wöchentlichen Gefängnisbesuch wiederkam. Die Aufgabe als Gefängnisarzt war nur ein Nebenjob, den Maja nicht weiterzuführen gedachte, sollte Skouboe irgendwann in Pension gehen.
    »Zurück von den Elenden«, sagte Skouboe melodramatisch. »Bist du nicht bald fertig mit deiner Schwangerschaft, dann können wir uns mal wieder einen kleinen Mittwochsschnaps gönnen.«
    »Nichts lieber als das, aber ein bisschen wird es schon noch dauern.«
    Skouboe ging zum Wandschrank und nahm die Flasche Fernet Branca aus dem untersten Regal. Er füllte ein Glas bis zum Rand und nippte daran, ehe er die Flasche wieder verschloss. »Was geht dir durch den Kopf?«
    Maja stieß einen tiefen Seufzer aus.
    »So schlimm?«, fragte er und ging zu ihr.
    Sie hatte keine Lust, die ganze Geschichte vor ihm auszubreiten, doch Skouboe hatte etwas an sich, das die Menschen verleitete, ihm sein Herz auszuschütten. Sie erzählte ihm, was in letzter Zeit geschehen war, und zeigte ihm die Postkarte.
    Skouboe musterte interessiert das Motiv, während er sich das Glas an die Lippen hielt, um daran nippen zu können. Schließlich leerte er es in einem Zug. Er kniff ein paar Mal die Augen zusammen, in die das Leben zurückkehrte. »Die Polizei hat das also als Jungenstreich abgetan?«
    »Ja, so in etwa«, antwortete Maja.
    »Tja, dann wird es wohl so sein. Und du hast keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
    Maja schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Am Ende der Straße gibt es ein paar Halbstarke, aber ich glaube nicht, dass sie was damit zu schaffen haben. Die sind genug damit beschäftigt, ihre Motorroller zu frisieren und ihre Joints zu rauchen.«
    Skouboe stellte das Glas auf den Schreibtisch. »Warst du während deiner Ausbildung nicht auch in der Sexualmedizinischen Abteilung der Psychiatrie?«
    Maja schüttelte den Kopf. »Nein, vorwiegend auf der Psychiatrie, warum?«
    Skouboe zuckte die Schultern. »Ich dachte nur gerade an einen alten Kommilitonen von mir, Thorbjørn …« Er suchte nach dem Nachnamen, kam aber nicht darauf. »Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen, aber ich könnte ihm ja mal wieder einen Besuch abstatten und bei dieser Gelegenheit die Postkarte zeigen, falls du nichts dagegen hast.«
    »Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinaus willst.«
    Thorbjørn ist einer der größten Experten überhaupt, wenn es um seelische Störungen geht. Im Laufe der Jahre hat er auch zahlreiche Sexualstraftäter behandelt. Ich weiß nicht, ob das überhaupt realistisch ist, aber vielleicht lässt die Postkarte ja in gewisser Hinsicht auf ihren

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