Die Geisel
töten, um ihren Drang auszuleben.«
Im nächsten Moment bereute Maja bereits ihre Frage. »Lassen Sie uns hoffen, dass er bald gefunden wird. Dann wird eine große Aufgabe auf Sie zukommen.«
Larsen sah sie betrübt an. »Ich gehe davon aus, dass er nicht therapierbar ist. Wenn Sie mich fragen, hat er gerade erst damit angefangen, seinen Charakter auszuformen. Ich fürchte, wir haben noch einiges von ihm zu erwarten.« Er begleitete sie zur Tür. »In den letzten zwanzig Jahren meines Berufslebens habe ich so einiges erlebt, aber er ist der Erste, der mir wirklich Angst macht.«
Maja benutzte die Personaltoilette und wusch sich die Hände. Sie blickte in den Spiegel und dachte an Thorbjørn Larsen. Trotz seiner unorthodoxen Art war sie überzeugt, dass er ein kompetenter Arzt war. Um seinen Job war er wirklich nicht zu beneiden. Die ständige Beschäftigung mit sexuellen Übergriffen musste sehr kräftezehrend sein. Sie selbst würde diesen Patienten gegenüber weder genügend Respekt noch Empathie entgegenbringen, um sie behandeln zu können.
Als sie auf den Gang trat, stand Larsen in der Türöffnung zu einem größeren Raum. Er begrüßte jeden der eintreffenden Männer per Handschlag. Sie warf einen flüchtigen Blick in den Raum. Die Ersten hatten bereits auf den kreisförmig angeordneten Stühlen Platz genommen. Sie musterte sie gründlich und prägte sich ihre Gesichtszüge ein. Doch sah sie keine lüsternen Blicke, weder troff ihnen der Speichel aus dem Mund, noch hatten sie irgendetwas Monströses an sich. Sie sahen aus wie ganz gewöhnliche Männer. Es waren ganz gewöhnliche Männer. Männer, denen sie tagtäglich im Supermarkt begegnen konnte, auf der Straße, in ihrer Praxis. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Warum war sie nur hierher gekommen? Warum hatte sie Walnuss und sich selbst so gefährlich nah an diese Männer da drinnen gebracht?
Sie eilte den Gang hinunter und verließ den Pavillon. Die warme Sommerluft raubte ihr fast den Atem, als sie vor dem Hauptgebäude stand. Dennoch war die Hitze willkommen. Die Panik ließ ihr Herz galoppieren. Wäre sie nicht schwanger gewesen, hätte sie sofort ein paar Rohypnol genommen. So wie früher. Jetzt musste sie sich mit einer der Milchschnitten begnügen, von denen sie sich einen Vorrat im Handschuhfach angelegt hatte. Gang gleich, wie geschmolzen sie bereits waren.
12
Die Küche lag fast vollständig im Dunkeln. Nur das harte Licht der Designerlampe über dem Küchentisch warf einen hellen Keil auf die Glaskolben.
Søren Rohde arbeitete zügig im kühlen Licht. Er maß sorgsam die Menge des kaustischen Sodas, ehe er es vorsichtig in den Kolben mit Spiritus füllte. Mit einem kleinen Stäbchen rührte er so lange, bis das Soda sich ganz aufgelöst hatte. Dann goss er den Inhalt in einen zweiten Kolben, in dem sich Gamma-Butyrolacton befand, und vermischte die beiden Flüssigkeiten durch kreisende Bewegungen seines Handgelenks.
Er summte versonnen vor sich hin. Es war ein sehr tiefes, leises Geräusch, das in seiner Kehle blieb. Kurz darauf begann er, ein Lied zu brummen: »Ich wünsche mir ein Haus so fein, das kleinste Haus auf Erden. Das soll mit seinem roten Dach mir eine Heimat werden …«
Aus der Halterung für die vielen Reagenzgläser nahm Søren das mit der grünen Flüssigkeit heraus. Er befestigte es am Stativ und entzündete den Bunsenbrenner. Man hörte ein heiseres Zischen, als das Gas entflammte, worauf die Flammen am Reagenzglas züngelten. Die Flüssigkeit begann zu kochen und langsam zu verdampfen. Søren senkte den Kopf und beobachtete den Kristallisationsprozess. »Und viele Rosen schau’n hervor … und Babys vor der Tür … wir können uns nicht selber bauen … wir waren ja schon hier.«
Er lächelte in sich hinein. Die grüne Substanz war seine heimliche Ingredienz. Feenstaub, der den Kindern Flügel verlieh. Er schaltete den Bunsenbrenner ab und ließ den Glaskolben abkühlen.
Weiter hinten auf dem Küchentisch lag ein Exemplar von Peter Pan. Das Buch war aufgeschlagen, zwischen den Seiten lag ein Blatt mit Glanzbildchen. Søren nahm es in die Hand und betrachtete das Motiv von Wendy. Sie war hübsch mit ihrem kastanienbraunen Haar und den zarten Gliedern. Ein liebevolles Lächeln umspielte ihren Mund, ihre Augen hatten einen nachsichtigen Ausdruck. Doch die gehobenen Augenbrauen zeugten davon, dass sie sich auch durchsetzen konnte. Etwas Nobles ging von ihr aus. Man wusste instinktiv, dass sie alles
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