Die Geisel
Verhältnis hatten.«
»Das sollte mal heute passieren. Dann würde der sofort von der Schule fliegen und auf der Titelseite des Ekstra Bladet landen«, sagte Annbrit. »Und wisst ihr noch, wer Kaninchen-John war?«
»Wer?«, fragten Maja und Jeanette im Chor.
»Natürlich weiß ich das«, antwortete Lone. »Der wohnte doch hinter der Schule in der Schrebergartenkolonie. Das war so eine Art lieber Onkel.«
Annbrit nickte. »Der hatte jede Menge Käfige mit Kaninchen, auf die wir manchmal aufgepasst haben. Dorte war regelmäßig da, Karsten aus der A und die kleine Helle, die später ein Junkie geworden ist.«
»Davon hab ich noch nie was gehört«, sagte Maja.
»Diese Katrine, die jetzt bei der Polizei ist, war auch immer …«
»Was ist mit diesem John?«, unterbrach sie Jeanette.
Annbrit zuckte die Schultern. »Ach, nichts Besonderes. Aber wenn er betrunken war, und das war er häufig, dann hat er seine Pornobilder rumgezeigt. Wahrscheinlich wollte er uns nur provozieren, aber trotzdem …«
»Komische Geschichte«, sagte Maja und rümpfte die Nase. »Haben eure Eltern denn nichts mitbekommen?«
Annbrit schüttelte den Kopf. »Glaub nicht. Aber ich weiß noch, dass er plötzlich weggezogen ist.«
»Weißt du, warum?«, fragte Jeanette.
»Irgendjemand hatte seinen Schrebergarten verwüstet, die Käfige zerstört und alle Kaninchen freigelassen. Ich glaube, seitdem hatte er Angst, dort zu wohnen.«
»Das nennt man wohl ausgleichende Gerechtigkeit«, sagte Maja trocken.
Die ersten Töne von »I will survive« drangen aus den Lautsprechern. Jeanette griff resolut zur Fernbedienung und drehte die Lautstärke auf. »Kommt, lasst uns tanzen!«
Alle folgten ihrer Aufforderung und standen auf. »Was ist mit eurem neuen Parkett?«, rief Maja durch die Musik hindurch.
»Was?«
»Du hast doch gesagt, das Hans Henrik ausflippt, wenn da plötzlich Abdrücke drin sind.«
»Ach, der kann mir gestohlen bleiben und der Scheißfußboden auch!«, rief Jeanette und nahm ihre Hand.
Sie grölten den Text mit, den sie in- und auswendig kannten. Maja betrachtete ihre Freundinnen, die um sie herum hüpften. Das ist unser Lied, dachte sie. Ist es immer gewesen. Heute Abend waren sie alle Gloria Gaynor, und sie alle würden überleben.
14
Maja setzte sich in ihren Mercedes. Der Mond stand voll und unheilvoll über der einsamen Straße. Nach dem lauten Abend bei Jeanette war die Stille im Fahrzeug bedrückend. Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie drehte sich um, konnte aber niemanden entdecken. Dann ließ sie den Motor an und drehte das Radio auf.
Die Stimme von Norah Jones hatte etwas Beruhigendes, während sie durch die menschenleeren Straßen des Vororts rollte. Doch Annbrits Geschichten über den Fotolehrer und John mit den Pornoheften ließen sie nicht los. Vielleicht weil sie zum ersten Mal davon gehört hatte. Wenn sie an ihre eigene Kindheit zurückdachte, hatte sie nur gute Erinnerungen. Niemand hatte sich ihr gegenüber seltsam benommen. Sie war beschützt und verwöhnt worden, als ihr Vater noch gelebt hatte. Danach war ihr Großvater in die Bresche gesprungen. Sie lächelte bei dem Gedanken, dass ihr erstes Auto auch ein Mercedes gewesen war - der, den sie von ihrem Großvater geerbt hatte zur Erinnerung an die vielen gemeinsamen Autofahrten.
Es machte sie traurig, dass sie von diesen Übergriffen, so unbedeutend sie auch sein mochten, nichts mitbekommen hatte. Und es wunderte sie, dass Annbrit nie zuvor etwas davon erzählt hatte. Waren das nicht Dinge, die man seinen besten Freundinnen in der Klasse anvertraute? Oder versuchte man gerade so etwas geheim zu halten, aus Angst, aus der Gemeinschaft auszuscheren? Vielleicht gab es noch mehr Opfer von Übergriffen, die sie von früher her kannte. Irgendjemand aus der Schule, dem Jugendzentrum oder der Nachbarschaft. Belästigungen und Übergriffe, von denen sie nie erfahren hatte. Die geschehen waren, während sie zum Reiten gegangen war oder mit ihren Puppen gespielt oder mit ihrem Großvater auf Langelinie ein Eis gegessen hatte. Es war ein beunruhigender Gedanke. Vielleicht hatte sie sich ihre Kindheitsidylle immer nur eingeredet.
Sie parkte auf der Einfahrt und blickte zum Haus hinüber. Stig hatte die Lampe über dem Küchentisch eingeschaltet. Ansonsten lag das Haus in völliger Dunkelheit. Es gefiel ihr nicht, in ein leeres Haus zurückzukommen, aber das war eben der Preis für ihre Teilnahme an der Bürgerwehr. Zwei Mal die
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