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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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tun würde, um anderen zu helfen. Sie war ein mutiges Mädchen. So wie es im Buch beschrieben war, aber auch im richtigen Leben. Genau so, wie er sie das erste Mal auf der Wiese hatte stehen sehen. Als sie aus der Geschichte herausgetreten und genau dort gelandet war.
    Er hielt seine rissigen Lippen an das Glanzbildchen. Das schimmernde Papier war angenehm kühl. Es roch alt. Alt und sicher, wie eine Höhle. Vielleicht wie in Wendys Haus. Das Haus, das sie bauen wollten, sobald sie nach Nimmerland kamen. Er wusste genau, wer dieses Bild bekommen sollte. Sie verdiente es, obwohl immer noch letzte Zweifel bestanden. Er musste sie testen, um ganz sicherzugehen, dass sie wirklich Wendy war. Nachdem er sie heute gesehen hatte, war er ein wenig unsicher geworden. Was hatte sie bei den Piraten in den grässlichen flachen Pavillons zu suchen? Der Gedanke allein erfüllte ihn mit Ekel. War sie immer noch rein und unbefleckt? Oder hatte sie deren Partei ergriffen? Er hoffte nicht, dass Letzteres der Fall war. Sie brauchten sie in Nimmerland. Er brauchte sie. Sie war ihre Mutter. Ihre kleine Mutter.
    Søren legte die Glanzbildchen in das Buch zurück und klappte es zu. Die Kristalle waren ausreichend abgekühlt, und er löste das Reagenzglas aus der Halterung. Vorsichtig ließ er die grünen Kristalle in den Kolben mit der milchweißen Flüssigkeit sinken. Sie lösten sich sofort auf und verliehen der Flüssigkeit eine giftgrüne Farbe. Er schaute den Kolben fasziniert an. »Wie das Meer, das den Felsen der Verlassenen umspült«, flüsterte er und knirschte mit den Zähnen.
     

13
    Die Freundinnen saßen barfuß auf dem Boden, weil Jeanette sie genötigt hatte, ihre Schuhe im Eingangsbereich zurückzulassen. Maja betrachtete verstohlen die breiten Vollholzdielen aus Eschenholz. Sie und Stig hatten sich mit schmaleren und billigeren Eichendielen begnügt. Sie spürte, wie Jeanette im Stillen diesen Triumph genoss, während ihre Rotweinlippen giftig lächelten und ihr Mund voller Guacamole war.
    Abgesehen von ihrem »Parkettneid« war es schön, mit den alten Mädels zusammen zu sein. Die gemeinsame Schulzeit lag schon eine Ewigkeit zurück, dennoch hatten die »Fantastischen Vier« - also Jeanette, Annbrit, Lone und sie selbst - es geschafft, in Verbindung zu bleiben. Sie hörten die Hits von damals und ließen die alten Zeiten hochleben. Im Moment erzählte Jeanette zu den Klängen von »We are family« von ihrem ersten Blowjob, der sich an Mittsommer vor fast zwanzig Jahren in einem Holzschuppen abgespielt hatte.
    »Woher wusstest du, wie man das macht?«, fragte Lone, die zum Rauchen durch die geöffnete Terrassentür nach draußen gegangen war. Sie klang etwas beschwipst, ihre erhitzten Wangen passten zu ihrem feuerroten Kleid.
    »Ich bin nicht so sicher, ob ich das wusste. Aber irgendwas musste ich ja schließlich tun, sonst wären wir nicht zusammengekommen«, antwortete Jeanette.
    »Du bist so ein verdammtes Luder«, sagte Annbrit amüsiert. Sie schüttelte den Kopf, so dass ihre großen Ohrringe klimperten. Sie war die Hübscheste von ihnen. Damals wie heute. Hoch gewachsen und schlank mit bewundernswert schmaler Taille. Allerdings hatte Maja sie im Verdacht, bei ihrer Oberweite künstlich nachgeholfen zu haben.
    »Was ist mit dir und Johnny-Honey, ihr habt doch bestimmt auch nichts ausgelassen.« Jeanette machte eine vielsagende Handbewegung.
    Annbrit schaute sie empört an. »Hör schon auf, wir haben doch niemals so was gemacht.«
    Lautstarke Buhrufe waren zu hören.
    »Also, ich hätte ja gerne, war eine echte Sahneschnitte, unser Johnny.«
    »Ist er immer noch«, warf Jeanette mit sehnsüchtigem Blick ein.
    »Jedenfalls hat er mittendrin einfach aufgehört«, fuhr Annbrit fort.
    »Konnte er nicht?«, fragte Maja.
    »Doch, schon. Aber er hatte am nächsten Tag ein Fußballspiel, und sein Trainer hatte Sex am Vortag verboten.«
    Lone brach in prustendes Gelächter aus. Der Zigarettenrauch schoss ihr gleichzeitig aus Nase und Mund. »Wer’s glaubt wird selig.«
    »Ich schwöre.«
    »Ihr wart doch lange ein Paar«, sagte Maja und nippte an ihrem Mineralwasser.
    »Ja, bis Charlotte kam, dieses Miststück«, antwortete Jeanette und klang dabei immer noch verletzt.
    »Bei der hat er jedenfalls nicht mittendrin aufgehört«, bemerkte Jeanette trocken.
    »Nein, die war in null Komma nichts kugelrund«, fügte Lone hinzu.
    Plötzlich herrschte betroffene Stille. Die Gegenwart hatte sie mit all ihrer Grausamkeit

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