Die Geisel
hier?«
»Ich … wohne hier.«
»Warum hast du mir das angetan? Mich dazu gebracht, dass ich dich spüre?« Er verbarg das Gesicht in den Händen. Sie wusste nicht, ob er weinte.
»Ich heiße Maja … Ich bin Ärztin … Ich will … Ihnen helfen.«
Er hob den Kopf. Sie schaute direkt auf seinen Mund und die kleinen knirschenden Zähne. »Ich brauche deine Hilfe nicht. Wenn du nicht Wendy bist, dann bist du wertlos. Dann bist du ein Nichts. Dann bist du nur ein Erwachsener. Weißt du nicht, dass jedes Mal ein Erwachsener stirbt, wenn ein Kind in Nimmerland einen Atemzug tut?«
»Nein, das …«
Er machte eine kurze Handbewegung, worauf ihr Gesicht von einer giftgrünen Wolke eingehüllt wurde. Sie war kalt wie Stahl. Halt die Luft an, Maja. Das war das Einzige, was sie dachte. Doch ihr Körper gehorchte nicht. Dieses Mal brannte die zerstäubte Flüssigkeit nicht, als sie sie einatmete. Sie kitzelte nur ein wenig in der Kehle, wie eine schwache allergische Reaktion. In diesem Moment fühlte sich ihr Kopf leicht an. Wie ein Rausch aus Valium und Champagner. Das grelle Licht verschwand, und die Konturen des Wohnzimmers verschmolzen miteinander. Alles fühlte sich so weich an. Es prickelte auf ihren Lippen und kitzelte in ihrem Schoss.
»Ich habe dich zusammen mit Tigerlilly und den Indianern gesehen. Auf der Wiese und auf dem Revier. Gehörst du zu ihnen?«
Er muss die Polizei meinen, dachte sie, während sie von irgendwoher einen leisen Gesang hörte.
»Antworte mir: Bist du eine von ihnen?«
»Nein«, hörte sie sich munter antworten. »Das glaube ich nicht.«
»Ich habe dich auch bei den Piraten gesehen. Was hast du bei ihnen gemacht? Weißt du nicht, welcher Abschaum das ist?«
»Ich verstehe nicht …« Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
»Natürlich tust du das!«, rief er. Sie spürte, wie Speicheltropfen auf ihrer Wange landeten. »Du weißt doch, dass du über die Planke gehst und bei den Krokodilen landest, wenn du nicht die Wahrheit sagst. So steht es geschrieben.« Wieder knirschte er mit den Zähnen.
Im selben Moment schloss sich seine Hand wie eine Kralle um ihren Hals. Er drückte langsam zu, und sie schnappte nach Luft. Versuchte, ihre Hände zu heben, doch ihr benommener Zustand machte dies unmöglich. Er hatte sie betäubt. Der Druck seiner Hand wurde immer stärker. Er wollte sie erwürgen. »Dann geh über die Planke«, sagte er.
Sie bekam keine Luft mehr. Der Sauerstoffmangel verursachte ein Dröhnen in ihrem Kopf. Als würden ihre Augen explodieren. Langsam zeichnete sich eine rote Korona in ihrem Blickfeld ab.
»Ich … bin … Wend … dy.« Sie wusste nicht, ob sie das sagte oder nur dachte.
Er löste seinen Griff. Sie japste nach Luft.
»Willkommen zu Hause«, sagte er und wischte ihr den Schweiß von der Stirn. »Du weißt, dass du unsere Mutter bist?«
Er setzte sich auf die Sofakante. »Ich möchte dich mit nach Nimmerland nehmen. Du hast es verdient. Weißt du, wo das ist?«
»Nein, ich …«
»Beim zweiten Stern nach rechts und dann immer geradeaus bis zum Morgengrauen. Sie warten auf uns, Wendy. All die verlorenen Jungen.«
Sie spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. »Bitte tun Sie mir nichts«, sagte sie heiser. »Ich bitte Sie …«
»Papperlapapp! Wir bauen ein Haus für dich. Für uns alle zusammen. Auch für den Kleinen.« Er klopfte ihr hart auf den Bauch. Viel zu hart.
»Ich bitte Sie … Lassen Sie uns gehen. Mich und ihn.«
»Aber wir müssen aufbrechen. Wer sollte sich sonst um die Jungs kümmern? Ohne uns haben sie keine Chance. Hast du schon mal gesehen, was ein Pirat mit einem kleinen Jungen anstellen kann?« Er holte tief Luft. »Das ist wirklich kein schöner Anblick.«
In der Ferne hörte sie eine Türklingel. Er zuckte zusammen. »Glöckchen ruft mich. Sie ist furchtbar eifersüchtig.« Lächelnd stand er vom Sofa auf.
»Wir werden uns bald auf den Weg machen, Wendy. Bald ist Geburtstagszeit. Dann hole ich dich. Ehrenwort. Dann retten wir ihn zusammen.«
»W…wen?«
»Na, das Geburtstagskind, Dummerchen«, antwortete er mit einem Kichern. »Er weiß noch gar nicht, dass er fliegen wird. Ist das nicht lustig?«
Es klingelte erneut an der Tür. Das riss sie ein wenig aus ihrer Betäubung. Machte alles deutlicher. Jetzt konnte sie fast die Konturen seines Gesichts erkennen. Seine Himmelfahrtsnase.
»Denk dran, dass alle klatschen, die an Feen glauben.« Er beugte sich hinab und packte ihre Handgelenke. Rhythmisch schlug
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