Die Geisel
nicht freiwillig stellt oder sie ihn schnappen, wenn er das nächste Mal zuschlägt, dann …«
Er legte die Gabel auf den Teller und schaute sie besorgt an. »Bist du immer noch sicher, dass wir nicht ein bisschen verreisen sollten?«
»Ich glaube, an anderen Orten sind wir auch nicht sicherer als hier.«
»Wir könnten auch meinen kleinen Bruder und den Schmied anrufen, damit sie hierher kommen.«
Maja kannte die beiden Kolosse, und trotz der beruhigenden Aussicht, fünfhundert Pfund norwegische Muskeln zu importieren, schüttelte sie abwehrend den Kopf. »Ich glaube nicht, das wir die beiden norwegischen Sumoringer einladen müssen. Wir werden hier doch gut genug bewacht.«
Stig zuckte die Schultern. »Ich brauche die Jungs nur anzurufen.«
»Weißt du, was mir am meisten Sorgen macht?«
»Nein.«
»Ich glaube, die Polizei ist auf dem Holzweg, wenn sie sich auf Pädophile konzentriert, die schon mal verurteilt wurden. Dieser Mann hier hat ernsthafte psychische Probleme.«
»Ach, was«, sagte Stig ironisch.
»Im Ernst. Ich habe viel darüber nachgedacht. Seine Fantasien, Entführungen, Gewalttaten und Morde. So etwas entsteht nicht von heute auf morgen. Es würde mich wundern, wenn der nicht schon öfter in irgendeiner Psychiatrischen Klinik aufgetaucht ist.«
»Darauf wird die Polizei ja wohl auch schon gekommen sein und sich in den entsprechenden Klapsmühlen umgehört haben.«
Sie zuckte die Schultern. »Das scheint aber bisher nichts gebracht zu haben. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich in dem halben Jahr auf der Psychiatrie alles zu hören bekommen habe.«
»Aber da müsste einer der behandelten Ärzte oder Therapeuten doch längst reagiert haben. Ich meine, wenn einer ihrer Patienten diesen ganzen Peter-Pan-Quatsch von sich gibt.«
»Ja, das finde ich auch merkwürdig.« Ihr Appetit war zurückgekehrt, sie schob sich ein Stück Hühnchen in den Mund. »Kann ja sein, dass seine Wahnvorstellungen jahrelang durch Medikamente in Schach gehalten wurden, aber die Behandlung aus irgendwelchen Gründen plötzlich nicht mehr anschlägt. Diese abgehackte Sprechweise und das Zähneknirschen sind ja wohl nicht angeboren. Vielleicht sind das Nebenwirkungen eines Drogenmissbrauchs.«
»Vielleicht nimmt er selbst die Substanzen, die er seinen Opfern verabreicht.«
»Genau!«, sagte sie und zeigte mit der Gabel auf ihn.
Stig streckte seine Hand über den Esstisch. »Aber, Schatz. Darüber brauchen wir uns doch keine Gedanken zu machen. Wenn das alles so ist, wie wir vermuten, wird die Polizei es irgendwann schon herausbekommen.«
Sie nahm seine Hand, obwohl ihr sein pädagogischer Tonfall nicht gefiel. »Du hast ja Recht«, entgegnete sie, vor allem um ihn nicht zu beunruhigen. »Sie werden ihn schon finden.«
Er lächelte.
Der helle Schein des Vollmonds drang durch die Gardinen und tauchte das Schlafzimmer in ein kühles Licht. Maja lag im Bett und fand keinen Schlaf. Stig schlief wie ein Stein. Sie schmiegte sich an ihn und genoss es, seine ruhigen Atemzüge zu spüren. Hier fühlte sie sich sicher. Bis zu einem gewissen Grad, denn die Gedanken an Pan konnte sie nicht ganz verscheuchen. Was tat er in diesem Augenblick? Wen beobachtete er? Wie bereitete er seine nächste Entführung vor? Würde er sich ihr noch einmal nähern können? Der Straßensperre, der beiden Polizisten, der Alarmanlage und Stigs breiten Armen zum Trotz? Sie konnte nicht einfach abwarten, bis das geschah oder er sich ein neues Kind schnappte. Der tote Dennis im Baum verfolgte sie immer noch bis in ihre Träume. Dann träumte sie, dass es Walnuss war, der dort im Baum hing. Sie wusste genau, wie er aussehen würde. Die Augen und das strubbelige Haar hatte er von Stig, sein Lächeln und die schiefen Zähne im Unterkiefer stammten von ihr. Sie fühlte sich gezwungen, der Polizei ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, ob es ihnen passte oder nicht. Sie kannte da einen bestimmten Ort, und dieser Ort konnte womöglich zu Pan führen. Morgen würde sie ihren freien Tag dazu verwenden, nach ihm zu suchen. Sie musste herausfinden, wer er war, bevor er ihr einen weiteren Besuch abstattete.
19
Der Duft nach Kaffee breitete sich im Personalraum der Psychiatrischen Klinik aus. Maja schnitt die Rhabarbertorte an, die sie bei Reinhard Van Hauen gekauft hatte.
Während ihrer Ausbildung hatte sie fast sechs Monate lang in dieser Abteilung gearbeitet und täglichen Umgang mit den Patienten gehabt. Darunter waren magersüchtige
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