Die Geisel
sich war Lohn genug, wie man sagte.
21
Die Wärme im Schlafzimmer war unerträglich. Maja strampelte die Decke fort. Hier war es wie in einem Sarg. Sie schaute zu Stig hinüber, der tief und fest schlief. Er hatte einen irritierend gesunden Schlaf. Doch es war nicht nur die Wärme, die sie wachhielt. Das Gespräch mit Claus ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie glaubte nicht an seine Theorie, dass Pan erst kürzlich ins Land gekommen war. Es musste ihm aus anderen Gründen gelungen sein, unerkannt zu bleiben. Hingegen hatte Claus recht mit seiner Beobachtung, dass Pans Morde immer ausgeklügelter wurden. Was bedeuten konnte, dass die Polizei bestimmte Mordfälle noch gar nicht mit ihm in Verbindung gebracht hatte.
Sie starrte reglos an die Decke, während sie sich Gedanken machte. Wenn er schon immer hier gewohnt hatte, wovon sie überzeugt war, konnte es nur eine logische Erklärung geben, wenn ein früherer Mord nicht entdeckt worden war: Er musste fälschlicherweise als Unglück registriert worden sein. Sie setzte sich auf. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Als sie in der Notaufnahme gearbeitet hatte, waren manchmal Kinder mit angeblichen Sturzverletzungen eingeliefert worden, die sich bei näherer Untersuchung als Gewalttaten erwiesen. Vor allem bei Wiederholungsfällen hatten sie die Polizei eingeschaltet. Doch oft waren die Indizien so schwach, dass sie sich darauf beschränken mussten, sich der physischen Schäden anzunehmen. Aus den Statistiken wusste sie, dass so etwas tagtäglich vorkam. Möglicherweise versteckten sich auch ein, zwei Morde hinter den Zahlen. War es möglich, dass Pan hinter einem dieser unentdeckten Morde steckte?
Maja öffnete die Nachttischschublade und zog einen Kugelschreiber heraus. Sie suchte etwas, worauf sie schreiben konnte, und griff schließlich zu ihrem Geburtsvorbereitungsheft auf dem Nachttisch. Sie schlug die letzten Seiten auf, wo Platz für eigene Notizen war. Es musste möglich sein, dass Profil eines potenziellen Opfers von Pan zu skizzieren: ein Junge, acht, neun Jahre alt, wohnhaft im Großraum Kopenhagen. Ermordet in der Nähe seines Zuhauses, vergiftet oder erwürgt. Die Tat war an seinem Geburtstag oder in unmittelbarer Nähe zu seinem Geburtstag geschehen, vermutlich innerhalb der letzten beiden Jahre, nach Pans Tötungsfrequenz zu urteilen. Natürlich gab es keine Zeugen. Und vielleicht hatte schon damals ein Glanzbildchen oder eine ähnliche Reliquie auf der Leiche gelegen. Weitere Parameter fielen ihr nicht ein. Vorsichtig stand sie auf und ging zu ihrem Handy, das zur Aufladung mit der Steckdose neben der Tür verbunden war. Sie fand Claus’ Privatnummer in der Kontaktliste und rief ihn an.
»Hallo?«, hörte sie ihn schlaftrunken am anderen Ende.
»Ja, hallo, Claus, hier ist Maja«, flüsterte sie.
»Wer?«
»Maja Holm, wir haben heute …«
»Wie spät ist es?«
»Viel zu spät. Ich rufe nur an, weil du doch angeboten hast, mir zu helfen, falls ich auf etwas Ungewöhnliches stoße … Und das bin ich jetzt.«
Es dauerte einen Augenblick, ehe Claus antwortete. »Können wir nicht morgen darüber reden? Es ist halb zwei.«
Sie wickelte nervös das Kabel ihres Ladegeräts um den Finger.
»Doch, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass wir keine Zeit verlieren sollten.«
Am anderen Ende war ein müdes Seufzen zu hören. »Also gut, worum geht’s?«
Maja erklärte ihm rasch ihre Theorie und beschrieb das soeben ausgearbeitete Profil.
»Interessant, den Täter durch das Profil der Opfer zu suchen. Gute Idee«, fügte er hinzu, schien aber ein wenig verärgert, nicht selbst darauf gekommen zu sein.
»Danke«, sagte sie.
»Allerdings glaube ich nicht, dass man früher schon irgendwelche Gegenstände bei den Opfern gefunden hat. Jedenfalls werden wir in keiner Datei darauf stoßen. Dafür glaube ich, dass wir die Todesursache ruhig ausweiten sollten. Vielleicht sollten wir Erhängen und Ertrinken mit einbeziehen.«
»Ja. Wäre es möglich, gezielt danach zu suchen?«
Claus gähnte. »Wenn ich das über mehrere Tage verteile … Ich schicke dir eine Mail, wenn ich das Ergebnis habe.«
»Ich weiß deine Hilfe sehr zu schätzen, Claus«, sagte sie und beendete das Gespräch.
»Wer war das?«, fragte Stig schlaftrunken.
»Falsch verbunden«, antwortete sie und legte sich wieder ins Bett.
Sie wusste nicht, warum sie log. Vielleicht um ihn nicht unnötig zu beunruhigen.
»Und das mitten in der Nacht …« Damit drehte er sich um und schlief
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