Die Geisel
wieder ein.
Sie konnte es kaum erwarten, eine Mail von Claus zu bekommen. Den ganzen Vormittag hindurch kontrollierte sie vergeblich ihr Handy, ob er ihr vielleicht eine SMS geschrieben hatte. Doch wusste sie sehr genau, dass gut und gern eine Woche verstreichen konnte, ehe er von sich hören ließ. Er musste vorsichtig sein und seine Recherchen in seine tägliche Arbeit integrieren. Wenn in Zeiten wie diesen herauskäme, dass jemand in einem Archiv nach ermordeten Jungen suchte, konnte das zu völlig falschen Schlüssen Anlass geben. Er riskierte nicht nur ein Disziplinarverfahren, sondern lief auch Gefahr, auf den Titelseiten der überregionalen Zeitungen zu landen. Und dann würden ihn noch so gute Absichten und Erklärungen nicht retten können. Sie erwog, die Wartezeit zu überbrücken, indem sie mit Henning, dem Kinderarzt des Ärztehauses, sprach. Vielleicht waren ihm in den letzten ein, zwei Jahren ein paar absonderliche Unglücksfälle unter seinen Patienten aufgefallen. Doch sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Henning war einfach zu nervös veranlagt und würde ihre Anfrage vermutlich in den falschen Hals kriegen. Wahrscheinlich sähe er sich schon selbst auf der Anklagebank, und ehe Maja dies verhindern konnte, hatte sie die Atmosphäre im gesamten Ärztehaus vergiftet. Was ihre zukünftige Partnerschaft von vornherein belasten würde. Falls sie irgendwann in dieser Richtung recherchieren wollte, dann nur mit Skouboes ausdrücklicher Einwilligung.
Am Nachmittag, als Maja gerade einen älteren Patienten mit Hexenschuss behandelte, erreichte sie eine Mail von Claus auf ihrem iPhone. Sie beendete rasch die Untersuchung, überwies den Patienten zur Röntgenabteilung und verabschiedete sich so hastig von ihm, dass er glatt vergaß, seinen Hosenstall zu schließen.
Claus schrieb in aller Kürze, dass er mit den Recherchen nicht habe warten können. Sie habe seine Neugier angestachelt. Er habe bereits alle beigefügten Patientenakten studiert, ohne sehr viel klüger geworden zu sein, doch wünsche er ihr ein glückliches Händchen bei ihren Bemühungen. »Gehen wir bald mal zusammen zum Mittagessen?«, endete die Mail.
Sie war sich nicht sicher, ob sein Eifer dem Ehrgeiz geschuldet war, den Fall zu lösen, oder ob er mit ihr persönlich zu tun hatte. Jedenfalls war sie sehr glücklich darüber, nicht länger warten zu müssen.
Sie öffnete den Anhang und überflog ihn kurz. Fünfundsiebzig Namen und ebenso viele Patientenakten. Sie hatte immer noch einige Patienten zu behandeln, also musste sie mit der Durchsicht bis zum Feierabend warten.
Als sie nach Hause kam, fand sie Stig in der Küche vor. Er war gerade vollauf damit beschäftigt, die Türen zu lackieren. Er hatte sie zu diesem Zweck ausgehängt und auf den kleinen Esstisch gelegt.
»Mein Gott, was für ein Gestank!«, sagte Maja und wedelte mit der Hand vor der Nase herum.
»Der Lack ist auf Wasserbasis, außerdem habe ich für Durchzug gesorgt. Du bist früh zu Hause.«
»Ja«, sagte sie. »Ist es in Ordnung, wenn ich mal kurz an deinen Computer gehe?«
Stig stellte den Pinsel in den Lackeimer.
»Ich bin gerade mit ein paar Notizen beschäftigt.«
Sie drehte sich um und warf einen Blick über den Flur in sein Arbeitszimmer hinein. Sie sah, dass der Monitor seines Computers schwarz war. »Aber der Computer ist ja gar nicht eingeschaltet.«
»Nein, aber ich wollte gerade«, entgegnete Stig irritiert.
Sie zuckte die Schultern. »Okay, dann warte ich eben.«
Stig schüttelte gereizt den Kopf. »Jetzt ist es auch schon egal. Meine Konzentration ist sowieso zum Teufel.« Er nahm den Pinsel aus dem Eimer und lackierte weiter.
Maja ging in sein Arbeitszimmer und fuhr den Rechner hoch. Sie kopierte die Datei ihres iPhones auf die Festplatte und öffnete sie. Ihr war sofort klar, dass Claus’ Suche sich auf mehrere Jahre erstreckte, er aber nicht genug Zeit gehabt hatte, seine Suchkriterien zu optimieren. Es war eine beklemmende Lektüre. All diese verunglückten Kinder. Die Verkehrstoten löschte sie sofort. Es war sehr unwahrscheinlich, dass Pan Kinder überfuhr, um seine Mordlust zu befriedigen. Auch gab es ein paar Vergiftungen in den heimischen vier Wänden, die nach tatsächlichen Unglücksfällen aussahen. Sobald Walnuss auf der Welt sein würde, mussten sie all diese Gefahrenquellen aus dem Weg räumen, inklusive Stigs Lack, ob nun wasserbasiert oder nicht.
Es dauerte ein paar Stunden, die gesamte Liste durchzuarbeiten.
Weitere Kostenlose Bücher