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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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nachdenklich in den Garten hinaus. Die Dunkelheit starrte zurück.
    »Wenn ich einen von den drei Fällen herauspicken sollte, von denen du gesprochen hast, dann wäre es der von dem Jungen, der vom Zug überfahren wurde. Der war … ein wenig sonderbar.«
    »Auf welche Weise?«
    »Vor allem, weil es nicht mehr viel für uns zu tun gab, wenn du verstehst.« Er ließ seine Hand durch die Luft sausen, als wäre sie ein vorüberfahrender Zug. »Die Überreste waren weit verstreut. Dennoch ist es unseren Chemikern gelungen, Spuren von Alkohol in seinem Blut zu finden. Ziemlich beeindruckend.«
    »Alkohol bei einem Neunjährigen?«
    »Ja, die fangen heute früh an.« Hans Henrik zog an seinem Zigarillo, lehnte den Kopf zurück und stieß den Rauch in den Nachthimmel aus. »Aber ich kann mir schon denken, was damals passiert ist.«
    »Erzähl!«
    »Vor ein paar Jahren gab es eine Gang von Jugendlichen, die sich in dieser Gegend herumtrieben. Sie nahmen Drogen, tranken, verunstalteten die Bahnhöfe mit ihren Graffiti und beschädigten auch Gleise.«
    Maja nickte.
    »Aber wenn sie richtig voreinander angeben wollten, dann surften sie an den Zügen.«
    »Surften an den Zügen?« Maja richtete sich auf.
    »Ja, sie stiegen in irgendwelche Züge, und wenn diese richtig Fahrt aufgenommen hatten, kletterten sie aus den Fenstern und wieder hinein. Oder sie sprangen auf anfahrende Züge auf und hielten sich fest.«
    »Hört sich beides ziemlich gefährlich an.«
    Hans Henrik nickte. »Einige von ihnen sind später bei uns gelandet.«
    »Und du glaubst, dass der Junge dazu gehörte?«
    Hans Henrik wiegte den Kopf hin und her. »Sowohl als auch. Bei den Toten, die wir obduziert haben, handelte es sich ausschließlich um Jugendliche.«
    »Es wäre also der einzig minderjährige Zugsurfer gewesen?«
    »Ja, aber es ist eine bekannte Tatsache, dass die meisten Zugsurfer entweder die Oberleitung berühren und verschmoren, oder mit Brücken, Schildern oder anderen Zügen kollidieren. Dieser Junge aber wurde frontal überfahren.«
    »Was hat die Polizei herausgefunden?«
    »Nichts Besonderes. Sie gingen einfach von einem Unglück aus, was es sicher auch gewesen ist.«
    »Bleibt die merkwürdige Tatsache, dass jemand einem Neunjährigen Alkohol eingeflößt hat.«
    Hans Henrik drückte seinen Zigarillo im Aschenbecher aus. »Das war auch mein Einwand. Irgendjemand in dieser Gang muss ein furchtbar schlechtes Gewissen gehabt haben.«
    »Ja, vielleicht.«
    In diesem Moment erschienen Stig und Jeanette mit dem Kaffee. »Wollen wir nicht ein bisschen Musik hören?«, fragte Jeanette ausgelassen.
    »Ich hab da ein paar tolle norwegische Volkslieder, die ich dir unbedingt vorspielen muss«, entgegnete Stig munter.
    Jeanette prustete vor Lachen. »Ach, Stig, du bist so komisch!«, rief sie und fiel ihm um den Hals.
    Maja sah die beiden im Wohnzimmer verschwinden, wo sie die Reihe von CDs neben der Anlage inspizierten.
    Hans Henrik hatte ihr Interesse geweckt, was den überfahrenen Jungen betraf. Dass der Junge betrunken gewesen war, noch dazu am frühen Morgen, bestätigte nur ihren Verdacht, dass hier etwas faul war. Ob Zugsurfer oder nicht.
     
    Es war kein Problem, im Internet etwas über Zugsurfer zu finden. Unzählige Seiten huldigten diesem Phänomen, dessen Beteiligte verehrt wurden wie Sportidole. Manche von ihnen hatten ihre Gesichter vermummt und sich Namen gegeben wie Slayer, Trainmonster und Bandit. Andere präsentierten sich mit ihren richtigen Namen und gaben bereitwillig Auskunft über ihr Hobby. Auf den verschiedenen Homepages existierten Links zu Videoclips, die die Zugsurfer bei ihren halsbrecherischen Touren zeigten. Der Qualität nach zu urteilen, waren die meisten dieser Clips mit dem eigenen Handy aufgenommen worden.
    Wer umgekommen war, besaß im Internet eine eigene Grabstätte. Hier wurde ihrer als Märtyrer gedacht, die im Kampf für die ultimative Freiheit gefallen waren. Maja konnte diesen Freiheitsbegriff nur schwer nachvollziehen, und fragte sich beklommen, was Walnuss alles anstellen würde, wenn er erst mal ins Teenageralter kam.
    Nach dem Studium der einschlägigen Internetseiten stellte Maja fest, dass der typische Zugsurfer in der Regel ein junger, aus desolaten Familienverhältnissen stammender Mann um die zwanzig war. Minderjährige waren im Internet nicht zu finden. Hans Hendriks Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen den Zugsurfern und dem überfahrenen Jungen gab, schien ihr deshalb zweifelhaft.
    Sie

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