Die Geisel
versuchte, im Internet etwas über die damaligen Unglücksfälle herauszubekommen, doch war nicht mehr allzu viel darüber zu finden. Der Junge namens Lasse hatte sich auf den Schienen herumgetrieben und dort gespielt, und der Zugführer hatte nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Der Fall war sowohl von der Polizei als auch vom Sozialamt untersucht worden. Beide kamen zu dem Ergebnis, dass es sich um ein tragisches Unglück handelte. Die Presse hatte den Fall voll und ganz ausgeschlachtet, eine Zeitung hatte sogar das Wort Selbstmord in den Raum gestellt, nachdem sie herausgefunden hatte, dass Lasse in eine Förderklasse gegangen war und Probleme in der Schule hatte. Mithilfe der Aussagen seiner Eltern, einiger Lehrer und des Schulpsychologen war es schließlich gelungen, dieses Gerücht zu entkräften. Alles sah weiterhin nach einem tödlichen Unglücksfall aus. Nur ein einziges Detail war den Journalisten entgangen. Keiner der vielen Artikel war auf den Alkohol eingegangen, der Hans Henrik zufolge im Blut des Jungen gefunden worden war. Sie fragte sich, woran das lag. Vielleicht hatten es die Behörden aus Rücksicht auf die Angehörigen unterlassen, die Presse von diesem Umstand in Kenntnis zu setzen. Oder dieses Detail war im Eifer des Gefechts vernachlässigt und niemals Teil der Ermittlungen geworden. Beides wäre plausibel.
Andererseits war der Alkohol im Blut des Jungen auch kein sicheres Indiz dafür, dass Pan mit der Sache zu tun hatte. Schließlich war es vom Alkohol bis zu den Substanzen, mit denen er seine Opfer betäubte, ein weiter Weg. Doch wurde mit dem Alkohol nicht andererseits dasselbe Prinzip angewandt? Nur weniger raffiniert?
Sie kannte den Ort, an dem Lasse getötet worden war. Als Kind hatte sie oft mit Jeanette und ein paar Jungen aus der Parallelklasse auf der Böschung gespielt, die zur Bahntrasse hinaufführte. Die Jungen hatten Kronkorken und Münzen auf die Schienen gelegt, die von den darüber fahrenden Zügen platt gequetscht wurden. Lars Bo mit den schiefen Zähnen und den roten Haaren hatte ihr einst eine platte 25-Öre-Münze geschenkt und zur Belohnung einen flüchtigen Kuss bekommen. Es wäre eine glückliche Erinnerung gewesen, wären sie nicht eines Tages von Katrine und ihrer Clique überrascht worden. Maja spürte immer noch, was für ein Gefühl es war, von ihnen eingekreist zu werden. Katrine hatte Lars Bo eine blutige Lippe verpasst und ihn von ihrem angestammten Terrain vertrieben. Eines der Mädchen - Maja wusste nicht mehr genau, wer - hatte sie angespuckt, ehe Maja die Flucht ergreifen konnte. In ihrer heimischen Straße hatte Jeanette ihr später mit einer Handvoll Blätter geholfen, die Spucke vom Ärmel zu wischen.
Vielleicht hatte auch Lasse Münzen auf die Schienen gelegt, als der Zug ihn überraschte. Vielleicht hatte er die Münze seiner Liebsten geben wollen.
Doch erinnerte sie sich, wie steil das letzte Stück der Böschung war. Sie selbst hatte es nie geschafft, dort hinaufzukommen. Die Jungen hatten sich damals gegenseitig hochziehen müssen. Vielleicht sah das Terrain heute anders aus. Oder Lasse hatte einen Weg zu den Schienen benutzt, den sie nicht kannte. Aber das änderte nichts daran, dass er keine vierhundert Meter von seinem Elternhaus entfernt getötet worden war. In einer einsamen Gegend. Ohne Zeugen. An seinem Geburtstag vergiftet. So wie Dennis und Oliver und die anderen Opfer von Pan. Es lohnte bestimmt die Mühe, sich dort einmal wieder umzusehen.
23
Der Zug schoss wie eine dunkle Wolke über den Himmel und verdeckte die Sonne. Der Lärm war infernalisch, als die Waggons an ihr vorbeibrausten. Im nächsten Moment war der Zug verschwunden und die Sonne mitsamt der Stille zurückgekehrt. Die Hagebuttensträucher, die entlang der Bahntrasse wuchsen, verströmten einen süßlichen Duft, den Maja auch am Fuße der Böschung noch wahrnahm.
»Entschuldigen Sie, Frau Holm, aber was wollen wir hier?«, fragte der Beamte, der zu ihr kam.
Aus seinem respektvollen Verhalten konnte sie auf sein Alter schließen. Die Polizisten schienen ihr immer jünger zu werden. Als Kind waren sie ihr wie unumstößliche Autoritäten vorgekommen. Als junge Ärztin auf der Notaufnahme hatte sie darum gekämpft, sich ihnen gegenüber Respekt zu verschaffen. Nun empfand sie einen fast mütterlichen Beschützerinstinkt angesichts des jungen Beamten mit dem Seitenscheitel und dem fünischen Dialekt.
»Wir gehen nur ein bisschen spazieren«, sagte sie, ohne den
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