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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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Vögel schwiegen hier. Doch trotz ihrer wachsenden Unruhe konnte sie nicht anders, als sich in Bewegung zu setzen. Nur ihre Schritte auf der trockenen Erde waren zu hören. Zu ihrer Rechten lagen die Villengärten mit ihren niedrigen Dornenhecken und den schmalen Pforten, die auf den Pfad hinausgingen.
    Als sie ein Stück weit gegangen war, blieb sie vor einer blauen Gartenpforte stehen. Die Klinke wurde durch einen dicken Ast blockiert, so dass sich die Pforte nicht öffnen ließ. Sie betrachtete das weiß gestrichene Haus und erkannte es von den Zeitungsartikeln über Lasses Tod wieder. Das Dach wurde gerade mit glasierten schwarzen Ziegeln neu gedeckt. Die Handwerker hatten etwa ein Drittel fertiggestellt; der Rest wurde von einer schwarzen Folie bedeckt, die leise in der schwachen Brise knisterte. Mitten auf dem Rasen stand ein aufblasbares Planschbecken, auf dessen Wasseroberfläche eine geblümte Kindergießkanne vor sich hin dümpelte. Hier hatte Lasse gewohnt. Hier hatte er sein kurzes Leben verbracht.
    Sie blickte zum offenen Fenster im ersten Stock. Vielleicht war das sein Zimmer gewesen. Sie stellte sich vor, wie es ausgesehen haben könnte, und dachte unwillkürlich an das Zimmer, das sie für Walnuss eingerichtet hatten. Sie schob diesen Gedanken rasch von sich.
    Auf der Giebelseite des Schuppens hing eine Leiter. Vielleicht hatte Pan die benutzt, um ihn zu holen, wie er es auch mit Oliver getan hatte. Vielleicht hatte er genau dort gestanden, wo sie jetzt stand, und die Familie beobachtet. Hatte auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um zuzuschlagen. Vielleicht hatte er sich auf dem dunklen Pfad herumgetrieben und sich mit den Kindern vertraut gemacht. Hatte sie gelockt. Sich eingeschmeichelt. Sich den Schwächsten aus der Gruppe ausgesucht. Vielleicht wohnte er gleich nebenan oder ein paar Häuser weiter oder …
    »Hallo, wer bist du?«
    Maja schaute überrascht das kleine Mädchen an, das auf der anderen Seite der Pforte aufgetaucht war. Sie war ungefähr vier Jahre alt, trug einen gemusterten Badeanzug und einen gelben Sonnenhut. Um den Mund waren Spuren von Schokoladeneis zu erkennen.
    »Hallo, ich heiße Maja.« Sie ging in die Hocke.
    Das Mädchen betrachtete sie aufmerksam durch den Maschendraht der Pforte.
    »Guck mal«, sagte sie und streckte ihr begeistert eine Hand entgegen, in der sich eine Puppe befand. Die Puppe war nackt und klitschnass.
    »Das ist aber eine schöne Puppe, wie heißt sie denn?«
    »Lise.«
    »Ein schöner Name. Ich hatte auch so eine Puppe, als ich klein war.«
    Das Mädchen schaute Maja zweifelnd an und ließ ihre Puppe sinken.
    »Stephanie?«, rief jemand aus dem Haus.
    Maja richtete sich wieder auf. In diesem Moment kam ihnen die Mutter des Mädchens entgegen. Sie trug abgeschnittene Jeans und ein weißes Top. »Da bist du ja«, sagte sie und zog an ihrer Zigarette. Sie streckte einen Arm nach dem Mädchen aus und warf Maja einen kurzen Blick zu.
    »Tag«, sagte sie und stieß den Rauch aus dem Mundwinkel. Sie war ungefähr in Majas Alter, doch die dunklen Ringe unter den Augen und die schlechten Zähne ließen sie älter aussehen.
    »Hallo«, erwiderte Maja und lächelte vorsichtig. Sie erkannte die Frau von den Zeitungsartikeln über den Todesfall nicht wieder.
    Stephanie schmiegte sich an ihre Mutter und klammerte sich an ein Bein. Die Frau wunderte sich offenbar, dass Maja sie immer noch anstarrte. »Kann ich Ihnen helfen?«
    Maja schüttelte rasch den Kopf. »Nein, nein, ich bin nur gerade zufällig hier vorbeigekommen. Ich habe hier früher gewohnt … Also ein Stück entfernt, aber wir sind oft zum Spielen hierher gekommen.«
    »Aha«, sagte die Frau und zog an ihrer Zigarette.
    »Ich bin jetzt wieder in die Stadt zurückgezogen, aber es ist natürlich schön, die Orte seiner Kindheit aufzusuchen. Wohnen Sie hier schon lange?«, fragte Maja.
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Nur den Sommer über.« Sie warf einen Blick auf ihre Tochter. »Wollen wir ins Bad, mein Schatz?«
    Das Mädchen nickte und winkte mit ihrer Puppe.
    Maja lächelte. »Dürfte ich vielleicht Ihren Garten als Durchgang benutzen? Es war doch anstrengender als ich dachte, sich dort drüben durch die Büsche zu schlagen.« Maja zeigte auf ihren Bauch.
    »Ja, natürlich. Die Frau entfernte den Ast, der den Handgriff blockierte, und öffnete die Pforte.
    Maja folgte ihr und Stephanie, die sich immer wieder neugierig nach ihr umdrehte. Maja bemerkte, dass der ganze Garten von hohen Hecken umgeben

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